: Blavatzkys Kinder - Teil 6 (Krimi)
Teil 6
Sie blickte Miriam aus ihren schönen dunklen Augen an und sagte atemlos ein paar Sätze, die Miriam nicht verstand.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Wo wollen Sie hin?“
Miriam zeigte in verschiedene Richtungen. Die Frau begriff, faßte nach Miriams Jacke und zerrte sie eilig und noch zitternd fort. Miriam ging mit. Sie wußte ohnehin nicht mehr, wo sie war.
* * *
Ein fremder Mann kam eines Tages in die Hütte am Rand von Bukarest, in der Soliza, der kleine Rjako, Ana, ihr Mann und ihre vier Kinder lebten. Jozef Gafita brachte ihn mit. Gafita wohnte und arbeitete in der nächsten Straße. Soliza kannte ihn nur flüchtig. Er verkaufte Werkzeug und reparierte Autos. Sie hatte kein Auto.
„Dieser Herr ist ein Wohltäter aus Deutschland. Er möchte mit euch sprechen. Dürfen wir eintreten?“ So höflich wie heute war Gafita sonst nicht. Ana nickte.
Gafita redete über das Wetter und betonte, wie leid es ihm tue, daß die beiden Frauen überfallen worden seien. Er habe sich Gedanken gemacht, wie er helfen könne.
Wann sagst du, was du wirklich willst? dachte Soliza, und warum bist du nicht gleich gekommen, als es passiert war?
„In Deutschland gibt es viele reiche Leute, die keine Kinder bekommen können“, begann Gafita.
„Ja, und?“ fragte Soliza.
„Diese deutschen Ehepaare lieben Kinder. In ihrem eigenen Land ist es schwer, Kinder zu adoptieren, deshalb möchten sie Kinder aus Rumänien adoptieren.“
„Er will unsere Kinder, Ana! Geh, Gafita, geh und laß dich nie wieder blicken“, schimpfte Soliza.
Gafita kam jeden Tag. Er spürte die wachsende Unsicherheit der beiden Frauen. Anas Mann war seit Wochen krank. Sie würden mit der Miete in Rückstand kommen.
„Stellt euch vor, wie gut es euren Kindern gehen würde. Sie würden in schönen Häusern wohnen.“
Solzia dachte an ihr Haus in HÛdÛreni.
„Beide Ehepaare haben große gepflegte Gärten. Die Kinder müßten nicht im Dreck auf der Straße spielen. Sie würden gutes Essen bekommen und neue Kleidung, immer wenn sie wieder ein Stück gewachsen sind.“
So deutlich hatte Soliza den Schmutz auf dem Boden von Anas Hütte noch nie gesehen.
„Sie werden in Privatschulen geschickt, und wenn sie wollen, dürfen sie später studieren. Eines Tages erben sie viel Geld und können ihren Geschwistern helfen. Und sie werden medizinisch versorgt. Wann immer sie krank sind, wird ein Arzt geholt. Das ist bei diesen Leuten so üblich.“
Soliza sah Rjakos Gesicht an. Blaß war der Kleine. Das Essen war schlecht, es gab zuwenig frisches Obst und Gemüse in der Stadt, und die meisten Dinge waren so teuer, daß sie sie nicht bezahlen konnten.
„Ihr könntet eure Kinder besuchen, und ihr bekommt genug Geld, daß ihr euch ein kleines, sauberes Haus für euch und die anderen Kinder leisten könnt. Na, was sagt ihr?“
Gafita und der fremde Mann kamen so häufig in ihre Hütte, bis Soliza keine Kraft mehr hatte, ihrem Sohn ein so viel besseres Leben zu verweigern. Jozef Gafita fuhr mit dem Deutschen vor. Vor der Tür stand ein schwarzer Lieferwagen, ein teures Auto. Darin waren Decken, Kissen, Spielzeug und Lebensmittel.
Soliza unterschrieb viele Formulare. Ana unterzeichnete ihre und gab sie auch ihrem Mann. Sie hatten Diwnas, Anas neunjähriger Tochter, gesagt, daß sie und Rjako eine lange Reise machen würden, und ihr eingeschärft, daß sie von jetzt an für den Kleinen verantwortlich war. Sie sollten in ein fremdes Land fahren und bei freundlichen Leuten wohnen, die sich um sie kümmern wollten. Diwnas verstand nicht, was mit ihr geschah. Sie war völlig verwirrt. Soliza umarmte den kleinen Rjako, bevor sie ihn in eine Decke wickelte und dem Fremden übergab.
Sie gaben den beiden Männern eine Reisetasche mit Kleidung für die Kinder mit. Gafita händigte den beiden Frauen Umschläge mit Geld aus. In jedem Kuvert steckte eine Million Lei, etwa dreitausendfünfhundert Mark. Soliza zählte das Geld nicht.
„Hier ist Ihre Kopie.“ Gafita riß das letzte Blatt des vermeintlichen Vertrages für die beiden Frauen ab.
„Darauf steht die neue Adresse der Kinder“, setzte der Fremde hinzu. „Jozef Gafita gibt Ihnen Nachricht, sobald die Kinder angekommen sind. Sie bekommen jeden Monat einen Bericht, wie es den Kindern geht.“
Ana weinte. Diwnas sah sie mit großen Augen an und sagte kein einziges Wort, als sie in das Auto gesetzt wurde. Soliza legte Rjako in das kleine Reisebett, das auf dem Rücksitz stand.
Fortsetzung folgt
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