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Das Paradies auf Erden

Eine neue Generation von Aussteigern hat sich in Ubud, dem Künstlerzentrum Balis, breitgemacht. Sie will sich hier ihren Traum vom Leben und Arbeiten erfüllen.  ■ Von Ralf Tiltscher

Es ist acht Uhr morgens. Die Sonne ist schon vor zwei Stunden über dem Horizont aufgegangen, und mächtig erheben sich die Vulkane Balis im Hintergrund. Bauernjungen treiben ihre schnatternden Enten über die Felder, Schulkinder in Uniformen laufen zur Schule, und die ersten Frauen kommen mit großen, vollbeladenen Körben auf den Köpfen von ihren Einkaufsgängen auf dem Markt in Ubud zurück.

Ich begleite Pat, einen Amerikaner aus Boston, auf seinem täglichen Gang zur Arbeit. 15 Minuten dauert der Marsch durch Reisfelder, dichten Regenwald und mehrere tiefe Schluchten von seinem gemieteten Bambushäuschen am Westende Ubuds zum nächstgelegenen Dorf Penestanan. In einem Gehöft warten schon, ungeduldig auf dem Boden sitzend, seine balinesischen Näherinnen. „Selamat pagi. Apa khabar?“ Mit einem freundlichen „Guten Morgen. Wie geht's?“ begrüßt er die fünf Frauen. Für 6.000 Rupien am Tag (umgerechnet 5 Mark) stellen sie von ihm entworfene dreidimensionale Bilder in traditioneller Glasperlenstickerei her. Gestern besorgte er noch in der Hauptstadt Denpassar die nötigen Materialien, um die Frauen für die nächsten Wochen zu beschäftigen. Nach kurzem prüfendem Blick und einigen neuen Anweisungen in gebrochenem Indonesisch fangen sie kichernd mit ihrer Arbeit an. Pat führt mich zu einer Stelle in der Nähe des Dorfes. „Hier werde ich mein eigenes Haus bauen.“ Das Grundstück hierfür hat er bereits für 20 Jahre gepachtet. „Dann habe ich es geschafft“, sagt der 30jährige.

Pat ist hängengeblieben. Wie so viele westliche Reisende. Bali sei sein erster Stopp gewesen auf einer geplanten längeren Urlaubsreise einmal um die Welt. Ubud, zentral im sanft gewellten Hügelland Südbalis gelegen, wurde ihm von Freunden empfohlen. Da es zudem das kulturelle Zentrum Balis ist, wollte er sich als Bildhauer und Holzschnitzer neue Einblicke in dieses Handwerk verschaffen. Doch die freundlichen Gesichter, die langsamere Gangart, die Offenheit der Menschen sowie die reizvolle landschaftliche Umgebung Ubuds zogen ihn derart in Bann, daß er sein Flugticket für die weitere Reise verfallen ließ und jetzt seit fast zwei Jahren an diesem Ort lebt. Für Pat ist es schlicht „das Paradies auf Erden“.

Als Künstlerzentrum Balis touristisch vermarktet, zog Ubud in den letzten 20 Jahren neben gigantischen Touristenströmen auch viele Reisende, die sich zum dauerhaften Bleiben entschlossen, an. Über hundert Ausländer, überwiegend aus Australien, den USA und Europa, haben heute Ubud und die umliegende Gegend zu ihrem momentanen Wohnsitz gemacht: hängengebliebene Rucksacktouristen, Journalisten, Autoren von Reisebüchern, Musiker, Maler, Designer und Architekten. Sie alle versuchen, mit irgendwelchen Geschäften, meist auf illegale Weise, ihren Traum vom Leben und Arbeiten auf Bali zu erfüllen. „Expatriates“ nennen sie sich, kurz Expats, Menschen, die sich ständig im Ausland aufhalten. Früher waren das vor allem Maler, Komponisten und Gelehrte, die sich aufgemacht hatten, die Schönheit und die Kultur Balis zu entdecken. Heute fliegen vielmehr Hedonisten und selbsternannte Geschäftsleute ein, denen es mehr um die schnelle Mark und das angenehme Leben geht. Steuern zahlt fast keiner. Billige Herstellungskosten und Arbeitskräfte sowie die Geschicklichkeit der Balinesen lassen das Import-Export-Geschäft mit allerlei verschiedenen Kunsthandwerken boomen. Trotz zunehmender Konkurrenz verdienen die westlichen Arbeitgeber genug, um sich Bedienstete und eine Lebensweise leisten zu können, die an die der holländischen Kolonialbeamten vor der Unabhängigkeit Indonesiens erinnert.

Mit dem zunehmenden Interesse an fernöstlichen Kulturen und Religionen wurde man nach dem Ersten Weltkrieg in Europa und den USA auf Bali aufmerksam. Angelockt von den Bildbänden des ersten europäischen Künstlers auf Bali, des holländischen Malers W. O. Nieuwenkamp, und dem Fotoband Gregor Krauses, reisten Ende der zwanziger Jahre zahlreiche Maler in das neuentdeckte Paradies. Viele der Künstler, vom Anblick der grünleuchtenden Reisfelder bezaubert, von der exotischen Kultur und dem milden Klima in der Umgebung Ubuds angetan, entschlossen sich zum Bleiben.

Es war vor allem der deutsche Maler und Musiker Walter Spies, der sich wie kein anderer Vertreter aus der westlichen Welt mit dem Wesen der balinesischen Kultur befaßt hatte und die Zuneigung der örtlichen Bevölkerung gewann. Er und sein späterer Nachbar, der holländische Maler Rudolf Bonnet, arbeiteten eng mit den örtlichen balinesischen Künstlern zusammen, und ihr Einfluß sorgte für die Wiederbelebung der balinesischen Malerei und anderer Künste.

Als Anfang der siebziger Jahre Flugreisen immer erschwinglicher wurden, öffnete Bali seine Tore auch weniger betuchten Reisenden. Tausende von Hippies auf der Suche nach neuen Lebensformen ließen sich am legendären Strand von Kuta nieder. Der Ruf eines „Aussteigerparadieses“ zog immer mehr Reisende an und machte Kuta zu dem, was es heute ist. Denen es zu voll wurde, bot die ruhigere Umgebung Ubuds eine neue Zufluchtsstätte.

Einige dieser Ex-Hippies haben es heute geschafft, ihre Träume zu verwirklichen und sich fest auf der Insel zu etablieren. Wie ein Australier, den ich im drei Kilometer von Ubud entfernt gelegenen Straßendorf Sayan, dem Beverly Hills der Expats, antreffe. Er, der den balinesischen Namen Made Wijaya angenommen hat, kam 1973 mit Freunden auf einem Segelschiff nach Bali. Anfangs hielt er sich noch mit Englischunterricht über Wasser. Inzwischen arbeitet er als erfolgreicher Architekt und Landschaftsgärtner mit Niederlassungen auf Bali, in Jakarta und Singapur. Die Gartenanlagen der luxuriösesten Hotels auf der tropischen Insel wurden von ihm entworfen und von seinen Angestellten angelegt. Als Wijaya 1984 Land in Sayan erwarb und sein erstes Haus baute, gab es dort nur zwei andere westliche Bewohner. Sayan, bekannt für einen traumhaften Ausblick über eines der schönsten Täler Balis, ist heute, elf Jahre später, zum Wohnsitz vieler erfolgreicher Leute geworden. Da sich seit dem Bau des exklusiven Amandari-Hotels 1989 die Pachtpreise für Land um ein Vielfaches erhöht haben und diese Gegend heute mit zu den teuersten Ecken Indonesiens gehört, sind es vor allem bekannte Künstler und reiche Geschäftsleute, die sich hier am äußersten Rande der Schlucht niederlassen.

Versteckt hinter den Gehöften der Dorfbewohner liegen die noblen Häuser der Expatriates. „Tabo-Land“ wird dieses Gebiet direkt am Abhang zur Schlucht von den Balinesen genannt. Sie würden aus Angst vor bösen Geistern niemals entlang dieses Landstreifens wohnen. „Auch für mich ist an diesem Platz Spirituelles erlebbar“, sagt der Münchner Maler Peter Dittmair beinahe ehrfurchtsvoll. „Ich habe das Gefühl, ich bekomme hier Unterstützung durch eine inspirative Atmosphäre, die mir erlaubt und hilft, meine Arbeit zu machen.“ Seitdem er 1983 aus dem Schuldienst ausgestiegen ist, verbringt der ehemalige Kunstlehrer vier bis sechs Monate im Jahr in Sayan. Während dieser Zeit entstehen zwei Drittel seiner gesamten Werke. Alle paar Tage kommt ein Mädchen aus dem Dorf, das kleine Opfergaben für die Götter vor seinem Haus hinterlegt, und einmal im Jahr läßt er seine Farben, Pinsel und Bücher von einem Priester segnen. „Ich glaube nicht an Magie“, sagt der überzeugte Zen-Buddhist und stopft dabei nachdenklich seine Pfeife, „aber als Zaungast inmitten dieser Kultur ist es mir wichtig, mich auf diese rituellen Geschichten einzulassen.“ „Es ist auch ein Stück Dankbarkeit, weil ich über diese Kultur meinen Lebenstraum verwirklichen konnte“, ergänzt der 50jährige, der gerade eine Ausstellung in Ubud vorbereitet, anläßlich seines und des 100jährigen Geburtstags von Walter Spies.

Wenn man mehrere Tage in Ubud verweilt, begegnet man mit etwas Glück dem holländischen Maler Arie Smit auf einem seiner regelmäßigen Spaziergänge. Der heute 78jährige zog 1956 nach Ubud und animierte einige 12- bis 14jährige Bauernjungen zum Malen, aus denen später die bekannte Künstlergruppe der „Young Artists“ erwuchs. Etwas bedrückt erzählt er, wie Verbauung und Zersiedelung in den letzten zehn Jahren das Aussehen Ubuds stark verändert haben. „Als ich hier ankam, dachte ich, ich lebe im 17. Jahrhundert. Es gab keinen Tourismus, keinen Verkehr, und Ubud war ein kleines Dorf, umgeben von Reisfeldern.“ Wo früher noch Reisfelder im üppigen Grün glitzerten, stehen jetzt Bungalows und alle Arten von Einrichtungen, die auf die Konsumbedürfnisse westlicher Besucher ausgerichtet sind. Und in vielen Fällen sind es Expatriates, die sich hinter den wie Pilzen aus dem Boden schießenden Restaurants, poppigen Boutiquen, Kunstgeschäften, Buchläden und Schönheitssalons verstecken.

Die ausländischen Dauergäste von heute haben es nicht mehr ganz so leicht wie Smit, der kurz nach der Unabhängigkeit des Archipelstaates in den fünfziger Jahren die indonesische Staatsbürgerschaft annahm. Heute ist das kaum mehr möglich. Da es nur Indonesiern erlaubt ist, Land auf Bali zu besitzen, müssen die Expats es über mehrere Jahre hinweg pachten oder es über einen indonesischen Strohmann erwerben. Je nach Art ihres Visums sind sie gezwungen, in regelmäßigen Abständen das Land zu verlassen. Die leidigen Ausreisen aus Indonesien werden entweder mit Geschäfts- oder Heimatreisen verknüpft oder eben in einer halbtägigen Prozedur kurzerhand erledigt: Singapur als nächstgelegener ausländischer Flughafen wird angesteuert, dort überbrückt man den etwa einstündigen Aufenthalt an der Flughafenbar und fliegt dann mit neuem Visum in der Tasche mit der nächsten Maschine zurück nach Bali.

Ein beliebter Treffpunkt der Expatriates in und um Ubud ist das „Beggar's Bush“, das Pub des Engländers Victor Mason. Seit 25 Jahren ist er da. „Zuerst dachte ich, ich brauchte einen Grund, um hier zu leben“, erinnert er sich. „Später wurde mir dann klar, ich wollte nur noch genießen. Mich nur noch den Dingen widmen, die mir wirklich wichtig waren.“ Die Vögel hatten es ihm bald angetan, und so gründete der Hobby-Ornithologe 1990 den „Bali Bird Club“. Beziehungen zu seinem Heimatland hat er fast keine mehr. „Wenn ich nach England gehe, bin ich ein Besucher. Hier sind mein Zuhause, meine Famiie, meine Freunde, und ich würde mit keinem anderen Platz auf der Erde tauschen.“ Und das, obwohl ihn schon einige Dinge hier stören. Am meisten das explosionsartige Anwachsen des Straßenverkehrs und die landschaftliche Zersiedelung durch ausländische Investoren. „Auf den Straßen kannst du dich heute nicht mehr sicher bewegen, und jedesmal, wenn ich durch die Reisfelder spazierengehe, stoße ich wieder auf ein neues Haus. Auf Häuser, in denen ein Balinese niemals leben würde. Aber solange es noch Plätze gibt, wo ich dem entfliehen kann, denke ich nicht daran, von hier wegzuziehen“, sagt Mason und merkt dabei gar nicht, daß auch er seinen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen hat.

Angezogen von den verzaubernden Klängen einer mir fremden Musik, treffe ich auf Jürgen. Glücklich sitzt er auf seinem Balkon und entspannt sich beim virtuosen Spiel auf seinem selbstgebauten Tingklik. Fast täglich hört man die warmen, vollen Töne dieses Bambusinstruments. Noch muß er jedes Jahr für ein paar Monate in seine Heimatstadt München zurückkehren, um genug Geld für seinen weiteren Aufenthalt zu verdienen. Er träumt davon, diese Art von traditioneller Musik wieder populärer zu machen und durch den Verkauf von Instrumenten seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vor fünf Jahren begann er, Musikunterricht bei einer balinesischen Familie zu nehmen. Über die Musik kam er sofort in Berührung mit der Kultur und den Menschen Balis. Inzwischen ist er ein gerngesehener Gast in den umliegenden Dörfern. In zwei Wochen heiratet er eine Balinesin aus einem weiter nördlich gelegenen Dorf. Zusammen wollen sie dann im Norden Land kaufen und ein Haus bauen. In der Umgebung Ubuds ist es ihm schon zu überlaufen und zu modern geworden. „In zehn Jahren werden auch die letzten Reisfelder zugebaut sein“, prophezeit er und zeigt dabei auf einen noch freien Landschaftsstreifen gegenüber seinem Bungalow. Vor kurzem sind die Landgesetze in Indonesien geändert worden. Es ist jetzt für Ausländer einfacher geworden, Land auf Bali zu erwerben: Der Ausverkauf dieser Region ist vorbestimmt.

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