: Brückenkopf oder Zugbrücke?
Wiener Melange: gemütlich und gemein. Das Image vom kulturellen Schmelztiegel reibt sich mit der alten „Gastarbeiterideologie“ ■ Von Beate Firlinger und Ina Zwerger
Wer auf einer der Zubringer- Autobahnen in Richtung Wien fährt, wird an der Stadtgrenze mit Beschilderungen begrüßt. „Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat“ oder „Daham bleibt daham“ springt da ins Auge, Slogans aus der EU- Kampagne des Vorjahres, die die Identität des kleinen Österreich im großen Europa beschwören sollen. Damit nicht schon genug, findet sich dann noch eine Tafel, die verspricht: „Wien bleibt Wien“. Dagegen wirkt das langjährige Motto der Kommune „Wien ist anders“, das auch mancherorts zu sichten ist, vergleichsweise erfrischend. Plakative Sinnsprüche, die die Ambivalenz im wienerischen Selbstverständnis andeuten.
Die Kontraste zwischen kosmopolitischem Flair und provinziellem Mief sind eigentümlich und typisch für die Stadtgeschichte. So wird einerseits das multikulturelle Leben Wiens von den Eingesessenen recht positiv bewertet, allerdings vor allem dann, wenn es um die Vergangenheit der Donaumetropole geht. Das versunkene Kakanien mit den gemütlichen Kaffeehäusern als Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle aus allen Teilen der Monarchie ist höchst lebendig.
Das multikulturelle Selbstbild Wiens beruht auf „einer – nostalgisch verklärten – historischen Retrospektive, die meist unter Ausblendung realer politischer Konflikte auf eine als typisch österreichisch klassifizierte Kultur des Fin de siècle zurückgreift“, vermerkt dazu das Buch „Inszenierungen. Stichwörter zu Österreich“ (Sonderzahl Verlag, Wien 1995) Dieses Image vom kulturellen Schmelztiegel Wien wird besonders von der Fremdenverkehrswerbung als Vermarktungsstrategie aufpoliert. Jene Zeit, in der Wien seinen Charakter als weltoffene Kulturmetropole durch die Barbarei des Nationalsozialismus eingebüßt hat, wird immer noch verdrängt.
Ende des 19. Jahrhunderts stellten die „echten“ WienerInnen eine Minderheit dar, mehr als die Hälfte der EinwohnerInnen war andernorts geboren. Und etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung kam aus Böhmen und Mähren. Ungefähr hundert Jahre später hält sich die Offenheit gegenüber den BesucherInnen und ArbeitsmigrantInnen aus Tschechien, der Slowakei, Polen oder Ungarn, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auf den Spuren ihrer Vorfahren wandeln wollen, in Grenzen. „Etliche Zeitgenossen empfinden die veränderte geopolitische Lage weder als Chance noch als Herausforderung, sondern als Zumutung“, so schreibt der Demograph Rainer Münz. „Sie wollen an keiner neuen Drehscheibe zwischen Ost und West, sondern lieber an einer Zugbrücke leben, mit der sich die Stadt bei Bedarf dicht machen läßt.“
Daß die Zugbrücke tatsächlich hochgezogen wird, belegen die Statistiken. So weist die Bevölkerungsbilanz für 1994 einen massiven Rückgang des Zuzugs von Menschen mit fremdem Paß auf, im Vergleich zu 1993 waren es um zwei Drittel weniger. Erstmals seit Anfang der achtziger Jahre wird in Wien 1994 eine negative Gesamtwanderungsbilanz verbucht (Jahresbericht des Wiener Integrationsfonds 1994). Grund für den Zuwanderungsstopp sind die restriktiven Bestimmungen des österreichischen Aufenthaltsgesetzes, das Mitte 1993 in Kraft getreten ist. Ein Gesetz, das „eigentlich nur desintegrierend wirkt“, wie es Max Koch, Leiter des Wiener Integrationsfonds, beschreibt. Diese kommunale Einrichtung wurde vor zweieinhalb Jahren gegründet, um das Zusammenleben zwischen zugewanderter und einheimischer Bevölkerung zu verbessern. „Es ist leider so, daß ein Großteil unserer Arbeit gebunden ist mit Hilfestellung für Menschen, die im Dschungel der Aufenthaltsbehörden verloren zu gehen drohen“, erklärt Koch.
Immer wieder werden Zuwandererfamilien, die teils seit zig Jahren hier leben und arbeiten, durch bürokratische Schikanen in ihrer Existenz bedroht. Da wurden Schulkinder per Amtsschimmel des Landes verwiesen, Familien auseinandergerissen oder ausgewiesen, nur weil sie eine Frist versäumten, weil ihr Einkommen als zu gering oder ihre Wohnung von Beamten als zu klein erachtet wurde. Max Koch spricht von „integrationshemmenden Rahmenbedingungen, die in ihren inhumanen Auswüchsen einer zivilen Gesellschaft unwürdig sind“.
„Da hilft keine Tränendrüse“, meint hingegen Johann Hatzl, Wiener Sozialdemokrat und als Stadtrat für den Vollzug des Aufenthaltsgesetzes zuständig, in einem Interview mit der Wochenzeitschrift Profil, das ihm so manche Rücktrittsaufforderung einbrachte. „Wir sagen ihnen: arbeite bei uns, hilf mit. Aber du mußt wissen: wenn irgendeine Voraussetzung von dir nicht erfüllt werden kann, dann kannst du nicht hierbleiben“ (Profil, Nr. 25, 19.6.1995). So einfach ist das also für die Hardliner in der roten Stadtregierung, die in Anbetracht des Wählerschwundes und der Kommunalwahlen im kommenden Jahr populistische Signale aussenden, um jene SPÖ-Kernschichten zu umwerben, die sich von den ausländerfeindlichen Parolen der Freiheitlichen und deren Führer Haider angesprochen fühlen.
In Wien mit seinen 1,6 Millionen EinwohnerInnen leben rund 300.000 Menschen ohne österreichischen Paß, die Mehrheit bilden die ImmigrantInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei. Diese sogenannten „AusländerInnen“ verfügen in der Weltstadt Wien über keinerlei Bürgerrechte. Sie genießen beispielsweise weder das kommunale Wahlrecht noch das passive Wahlrecht zum Betriebsrat. Auch eine Interessenvertretung in der Stadtregierung, etwa in Form eines Ausländerbeirates, wurde bislang nicht etabliert. Bleibt der Wiener Integrationsfonds, der zwar über Finanzmittel verfügt, um verschiedene Integrationsprojekte zu fördern, dabei jedoch mit keinerlei politischen Kompetenzen ausgestattet ist. „Es herrscht halt immer noch diese alte Gastarbeiterideologie“, ortet der Integrationsfonds- Chef Koch „und auch enorme demokratiepolitische Defizite“. „Man glaubt immer noch, das sind Menschen mit einem Ablaufdatum, denen man jederzeit ihre Lebensgrundlage hier entziehen kann, wenn sie nicht mehr zu verwenden sind.“
Da der ausländischen Wohnbevölkerung auch der Zugang zum sozialen Wohnbau versperrt ist, weist Wien ein Bild starker räumlicher Segregation auf. So lebt rund die Hälfte der ImmigrantInnen in nur sechs von 23 Wiener Gemeindebezirken. Einer dieser Stadtteile ist Wien-Ottakring, der mit zwei lokalen Besonderheiten aufzuwarten hat: einem Arbeitsstrich für illegale und dem Brunnenmarkt mit seinem kulinarisch multikulturellen Ambiente. In diesem „Grätzl“, dem Wohnviertel rund um den Markt, haben sich vor allem die türkischen EinwanderInnen eine funktionierende Infrastruktur geschaffen.
Läden, Moscheen, Kebab-Stuben, Reise- und Übersetzungsbüros, abgewohnte Altbauten – das Wiener Kreuzberg. Oberflächlich betrachtet eine bunte, friedliche Stimmung. Auf unsere Frage, ob die EinwanderInnen im Bezirk politisch mitbestimmen sollen, antwortet der Inhaber eines Marktstandes, ein alteingesessener Ottakringer: „Wir wollen doch keine Mullah-Stadt werden.“ Das goldene Wiener Herz!
„Die erste Generation wurde gebrochen, unsere Eltern machen eine Scheißhacken, die ganzen schlechten Jobs, und die werden nie aufmucken“, sagt der 20jährige Peter, der als Kind mit seinen Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Wien gekommen ist. „Ein original Wiener Tschusch“, wie er sich selbst provokant bezeichnet. „Ich möchte nicht, daß unsere Generation einen absoluten Minderwertigkeitskomplex kriegt, und deshalb wollen wir auch kräftig für unsere Rechte eintreten.“ Peter engagiert sich gemeinsam mit vielen anderen Burschen und Mädchen für Echo, die „erste und einzige Zeitschrift von und für ausländische Jugendliche in Wien“. Anliegen des 1993 ins Leben gerufenen und mittlerweile äußerst erfolgreichen und stadtbekannten Zeitungsprojektes ist es, ein neues politisches und kulturelles Selbstwertgefühl zu repräsentieren.
In der jüngsten Echo-Ausgabe zum Schwerpunktthema „Familien“ wurden die Eltern über ihr Lebensgefühl in Wien befragt. „Wir verstehen es nicht, warum die Nachbarn stundenlang am Gang reden, anstatt einander auf einen Schluck Kaffee einzuladen“, meint da etwa eine türkische Mutter zum typisch wienerischen Kommunikationsverhalten, dem Tratsch an der Bassena im Stiegenhaus. „Wir haben da ein türkisches Sprichwort: Eine Tasse Kaffee bedeutet 40 Jahre Freundschaft.“
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