Nur selten brechen die Zeugen ihr Schweigen

■ Auftragsmord vor Gericht: Tatzeuge könnte erstmals mutmaßliche Beteiligung der „Russenmafia“ aufdecken

Vor dem Landgericht wird seit gestern ein Fall verhandelt, der alle „Zutaten“ für einen klassischen Fall im Umfeld der organisierten Kriminalität aufweist: Der 40jährige Viktor I. und sein flüchtiger Mittäter Wladimir M. sollen im Januar 1993 im Auftrag eines unbekannten Dritten den russischen Kaufmann Alexander N. mit einem Kopfschuß in seinem Zimmer im Hotel „Esplanade“ umgebracht haben. Kriminaltechnische Untersuchungen ergaben, daß der Kaufmann mit der gleichen Waffe erschossen wurde, die 1992 bei einem Mord in Lodz verwendet wurde. Auch dieser Mord soll auf das Konto des Angeklagten und seines Mittäters gehen.

Der Angeklagte, der seit September letzten Jahres in U-Haft sitzt, saß gestern stumm hinter einer Glasscheibe. Zu den Vorwürfen äußerte er sich nicht. Der im ehemaligen Lemberg geborene Viktor I. ist entweder ukrainischer Staatsangehöriger oder, wie er selbst angibt, staatenlos.

Hintergrund des Auftragsmordes ist Geld. Der Kaufmann N., der in Moskau in Kreisen organisierter Verbrecherbanden verkehrt haben soll, war laut Anklage im Dezember 1992 in Begleitung seines Leibwächters nach Berlin gereist, um im Auftrag der Moskauer Firma Intercom Geldforderungen einzutreiben. Die Firma hatte über ein Konto von K., eines in Berlin lebenden Russen, 240.000 Mark an einen Berliner Kaufmann verliehen. 200.000 Mark zuzüglich eines „Zinses“ von 50.000 Mark standen noch aus. Die 200.000 Mark, die im November 1992 durch einen unbekannten Mittelsmann an den Zeugen K. übergeben worden waren, wurden einige Wochen später entwendet. Bei seinen Nachforschungen soll N. geäußert haben, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Nach Ansicht der Anklage hat ein bislang unbekannter Dritter den jetzt Angeklagten und seinen flüchtigen Komplizen für 100.000 Mark beauftragt, den Kaufmann N. und den Zeugen K. zu töten. Die beiden Ukrainer sollen K. mit Waffengewalt gezwungen haben, das Mordopfer in seinem Hotelzimmer im „Esplanade“ aufzusuchen – wohl, um sich dadurch leichter Zutritt zu verschaffen. Dieser war allein in seinem Zimmer, seinen Leibwächter hatte er wegen seines Alkoholkonsums nach Hause geschickt.

Wie verabredet, soll Wladimir M. eine Pistole mit Schalldämpfer auf den Kaufmann gerichtet und ihm mit den Worten „Leg Dich auf den Boden, du KGB-Schwein“ befohlen haben, sich bäuchlings auf den Boden zu legen. Aus nächster Nähe soll er ihn von hinten in den Kopf geschossen haben. Nachdem Wladimir M. 20.000 Mark des Opfers an sich genommen habe, sollen die Täter zusammen mit dem Zeugen K. das Hotel verlassen haben. Aus ungeklärten Gründen wurde K. am Leben gelassen. Aufgrund von K.'s Aussage und eines Fingerabdrucks des Angeklagten am Tatort konnten die Täter identifiziert werden. Die Anklage hofft, Viktor I. mit Hilfe des Tatzeugen zu überführen.

Das wäre ein eher ungewöhnlicher Erfolg der Kriminalpolizei. Oft genug scheitern Verurteilungen von Tätern aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität an fehlenden oder nicht aussagewilligen Zeugen. Das „massive Einwirken“ auf Zeugen, ob Geschädigte oder Mittäter, ist nach Ansicht von Andreas Pahl, Referatsleiter der organisierten Kriminalität, ein wichtiges „Instrument der organisierten Kriminalität“. Die Mittel reichten von der verbalen Warnung über die Bestechung bis zur Liquidierung von „lästigen Zeugen“.

Erschwert werde die Beweisführung auch dadurch, daß bei Zeugen der „ausländischen organisierten Kriminalität“ die Aussicht auf Straferlaß „überhaupt nicht greift“. Zu groß sei die Angst vor Ausschluß aus der Gruppe, der Verstoß aus der Familie während der Haftzeit oder vor „Repressalien bis hin zum Tod“.

Erst Anfang dieses Jahres war ein staatenloser Russe vom Vorwurf des Doppelmordes an zwei russischen Ikonenhändlern freigesprochen worden, obwohl die Anklage davon ausging, daß der Täter ein professioneller Serienkiller ist. Doch in dem Indizienprozeß konnte keine lückenlose Beweiskette zusammengefügt werden. Auch der Ukrainer, der vor vier Jahren in einem italienischen Restaurant in der Fasanenstraße mit einem Schnellfeuergewehr drei Russen zum Teil schwer verletzt hatte, war nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ein bezahlter Killer im Auftrag einer kriminellen Organisation.

Doch weil die interessantesten Zeugen, die Männer, auf die der Ukrainer geschossen hatte, zu den Hintergründen schwiegen, konnte ein russischer „Bandenkrieg“ nicht bewiesen werden. Einer der Männer war zwei Monate vor der Urteilsverkündung tot in einem Straßengraben bei Amsterdam aufgefunden worden, ein zweiter Zeuge verschwand spurlos und der dritte war auch mit Ordnungsstrafen nicht zu bewegen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen. Barbara Bollwahn