: Bilde eine Frau aus ...
... dann bildest du die Nation – Frauen, Körperpolitik und die Prioritäten der Bevölkerungsentwicklung ■ Von Naila Kabeer
Der offizielle Entwicklungsjargon berechnet die Zeit in Jahrzehnten. Die UN erklärte die sechziger Jahre zur ersten „Dekade der Entwicklung“, und nach dieser Rechnung wären wir inzwischen im vierten Entwicklungsjahrzehnt. Frauen entdeckte man erst in der zweiten Dekade.
Die klassische Metapher zur Illustration ökonomischer Theorien von Produktion und Austausch in wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern war Robinson Crusoe: zunächst auf sich allein gestellt bei der Entscheidung, wie er seine Zeit zwischen Arbeit und Muße aufteilen soll, liefert er mit dem Auftauchen seines Dieners Freitag ein Modell für den Austausch zwischen ökonomischen Subjekten. Der Vorteil dieser Metapher liegt darin, daß beide Subjekte erwachsen ins Dasein treten; die Prozesse, mittels derer sie geboren, genährt und aufgezogen wurden, bis sie an ökonomischen Transaktionen teilnehmen konnten, sind für den Ökonomen nicht von Belang und werden in diesem metaphorischen Modell dementsprechend ausgegrenzt.
Da die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums in der Dritten Welt aber schon sehr früh als Schlüsselhindernis für das Wirtschaftswachstum ausgemacht wurde, ist insbesondere die Intervention in die Reproduktionsprozesse seit langem zu einem wichtigen Thema geworden. Wenn Frauen früher überhaupt auf der Prioritätenliste der Entwicklung auftauchten, dann als Überproduzenten von Menschen.
Inzwischen konnten die Entwicklungsinstitutionen davon überzeugt werden, daß Investitionen in Frauen den Schlüssel zur größeren Produktivität der menschlichen Ressourcen einer Nation bilden. In der Entwicklungsgemeinde heißt es seit langem: Bilde einen Mann aus, und du bildest damit ein Individuum; bilde eine Frau aus, dann bildest du die Nation.
Der Anspruch der Frauen auf Ressourcen innerhalb des Entwicklungsprozesses setzt daher voraus, daß sie zum Erreichen der Gesamtentwicklungsziele beitragen können. Aber das hieß nicht, daß auch die rechtliche Lage der Frauen in den Blick geriet; verständlicherweise gilt das Interesse der Entwicklungsinstitutionen in erster Linie der Beziehung zwischen Individuen und Markt.
Das zeigt sich exemplarisch im neuesten Bericht von amnesty international. Rechtzeitig zur Vierten Weltkonferenz der Frauen im September in Peking veröffentlicht, konzentriert sich der Bericht besonders auf die Verletzung der Menschenrechte von Frauen in China. Brennpunkt ist jene Kategorie der Rechtsverletzung, die als legitimer Bereich öffentlicher Sorge gilt: die Beziehung zwischen individuellen Bürgern und dem Staat. Das ohrenbetäubende Schweigen des Berichts hinsichtlich der Verletzung von Frauenrechten in jenen Bereichen, die als Privatsphäre der Familie oder als kulturelle Tradition der Gesellschaft gelten, lenkt die Aufmerksamkeit auf die tiefsitzenden Geschlechtsvorurteile, die bei der Behandlung der Menschenrechtsfragen traditionell auftreten. Als wichtigste frauenspezifische Menschenrechtsverletzung behandelt der amnesty-Bericht die Versuche, die Reproduktionsentscheidungen unter staatliche Kontrolle zu bringen.
Berichte über erzwungene Abtreibungen und Sterilisationen, welche die Ein-Kind-Politik des Staates durchsetzen sollen, gibt es seit Jahren. Nun werden sie von amnesty bestätigt. Frauenrechtlerinnen haben nachdrücklich darauf hingewiesen, daß viele Menschenrechtsverletzungen weder von den Entwicklungsbürokratien noch von den Menschenrechtsinstitutionen wahrgenommen werden, weil sie im häuslich-kulturellen Bereich stattfinden.
Über drei Jahrzehnte sozialistischer Entwicklung haben China zum Status einer Supermacht verholfen, die jahrhundertealte Abwertung der Frauen nicht auslöschen können. Stattdessen wurde sie in neuer Form rekonstituiert. Neben den offiziellen Abtreibungen, die der Staat fordert, gibt es die geheim und freiwillig begangenen Abtreibungen, sobald Frauen entdecken, daß sie einen weiblichen Fötus tragen. Die Zahl der in China geborenen Jungen übertrifft die Zahl der Mädchen beträchtlich; besonders nach der ersten Geburt schießt das Verhältnis der Zahl der Jungen zu der der Mädchen erheblich in die Höhe. Darüber hinaus liegen Berichte über Kindesmord sowie über die massenhafte Aussetzung von kleinen Mädchen vor.
Auch Indien verzeichnet, praktisch seit Beginn von Volkszählungen, ein Frauendefizit in seiner Bevölkerung. Dieses Defizit tritt vor allem im Norden auf, wo Frauen noch weit mehr benachteiligt sind, während in den südlichen Staaten traditionell entweder gleich viele oder sogar mehr Frauen als Männer leben. Historischen Angaben zufolge gab es in dem nordindischen Staat Rajasthan Dörfer, in denen „Jahrhunderte vergingen, ohne daß diese Mauern das Lächeln eines Mädchens sahen“. Abgesehen von dem offensichtlichen Kindesmord wird das Frauendefizit in den nördlichen Staaten Indiens auch einer diskriminierenden Ernährungspraxis, der Verweigerung ausreichender Gesundheitspflege für Töchter und dem Druck auf die Frauen zugeschrieben, früh, häufig und in kurzen Abständen zu gebären, damit es genug überlebende Söhne gibt, was wiederum eine hohe Müttersterblichkeit zur Folge hat.
Die Praxis des sati – der Witwenverbrennung – ist zwar illegal, im Norden jedoch weit verbreitet; der letzte bekannte Fall wurde aus Rajasthan berichtet. Auch mehrere Jahrzehnte der Entwicklung konnten an dieser kulturellen Benachteiligung nichts ändern; im Gegenteil: das Frauendefizit wächst und greift nun auch auf die südlichen Staaten über. In der Dokumentation einer regierungsunabhängigen Organisation in Tamil Nadu, einem der südindischen Bundesstaaten, wo diese Umkehrung im Verhältnis Männer- Frauen am schnellsten erfolgte, berichten Mütter über die drei häufigsten Tötungsmethoden für weibliche Säuglinge. Hintergrund dieser Entwicklung ist die Übernahme von Bräuchen aus höheren Kasten, insbesondere der Zahlung einer Mitgift durch die Eltern des Mädchens an den Bräutigam – ein Prozeß, der das Wirtschaftswachstum und das Vordringen der Frauen in das Arbeitsleben begleitete. Eine neuere Analyse der überproportionalen Frauensterblichkeit zeigte, daß sie in den Staaten am höchsten war, die wirtschaftlich am weitesten entwickelt sind.
Das andere vielfach publizierte Beispiel für die Verletzung der körperlichen Integrität von Frauen ist die weibliche Beschneidung, die in Teilen Afrikas weit verbreitet ist. Vergewaltigung galt in der öffentlichen Wahrnehmung lange Zeit als eine individuelle Abweichung von Männern mit unkontrollierbaren Sexualbedürfnissen. Daß ihre Wurzeln in der kulturellen Abwertung der Frauen liegen, wurde gewöhnlich ignoriert oder geleugnet.
Institutionalisierte Massenvergewaltigung ist in Teilen Papua- Neuguineas als Form der Kontrolle über Frauen sogar kulturell sanktioniert. Aber erst jetzt erkennt man, daß sie auch als Waffe im Krieg verwendet wird, um den Feind unter den verschiedensten Umständen zu demütigen. Die internationalen Medien berichteten über Beispiele massenhafter Vergewaltigung im Kriege, zum Beispiel die Vergewaltigung von Frauen aus Bangladesch durch pakistanische Soldaten während des Befreiungskrieges 1971; auch in Uganda, Ruanda und in neuerer Zeit in Bosnien. Während der Unruhen in Indien nach der Zerstörung der Abri Masjid in Ayodhya durch Hindu-Fundamentalisten zeigte ein Video, das im Untergrund kursierte, die Vergewaltigung muslimischer Frauen in Surat. Es symbolisierte weniger die Entwürdigung der muslimischen Frauen als die Demütigung des muslimischen Mannes, der die Ehre seiner Frau nicht zu schützen vermochte. Diese extremeren Formen des Angriffs auf Körper und Menschenrechte der Frauen haben sich der öffentlichen Aufmerksamkeit aufgedrängt.
Der geringere Status der Frauen symbolisiert sich auch in der Art der physischen Interaktion mit Männern. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Frauen erweist sich als leistungsmindernd für die Maßnahmen der ökonomischen Anpassung.In Rajasthan wurde Bhanwari Devi, eine Entwicklungsarbeiterin, die die Regierungskampagne gegen Kinderheirat unterstützt hatte, von Angehörigen der Oberkaste in ihrem Dorf vor den Augen ihres Mannes vergewaltigt. Bhanwari Devis Fall kam erst nach einem Jahr vor Gericht, und daß es überhaupt zu einem Verfahren kam, war teilweise ein Erfolg der Bemühungen der indischen Frauenbewegung. In Indien wie an anderen Orten birgt die Vergewaltigung mehr Schande für das Opfer als für den Täter. 1994 erhielt Bhanwari Devi den Neerja-Bhanot-Preis für ihren Mut, mit dem sie sich öffentlich gegen die mächtigsten Angehörigen ihrer Gemeinde gestellt hatte. Sie wird, so hat sie angekündigt, einen Teil des Preisgeldes dazu benutzen, eine Toilette für die Mädchen in der Dorfschule zu bauen.
Naila Kabeers neuestes Buch „Reversed Reality“ wurde Anfang dieses Jahres beim Verso-Verlag in Großbritannien veröffentlicht.
Frauen in China: Imprisoned and Abused for Dissent (amnesty international, Juni 1995, 27 Seiten)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen