Zweimal Tränen vor Gericht

■ Zwei Frauen weinen um ihre Männer – den Angeklagten und sein Opfer

Zwei Frauen sitzen weinend im feudalen, holzgetäfelten Bremer Schwurgerichtssaal 231. Die eine, jung und blond – Christiane F. – nestelt verstohlen an ihrem Papiertaschentuch herum. Sie weint um den Angeklagten, Kai S., ihren Freund. Die andere trägt immer einen Hut, ist ganz in Schwarz gekleidet und greift oft zum Damentaschentuch, um die Tränen zu trocknen. Sie ist Nebenklägerin in diesem Prozeß; Mutter des zu Tode gekommenen Opfers, Uwe K.

Der 34jährige Angeklagte hatte mit seiner Freundin Silvester '94 gefeiert. Nach einer langen Odyssee durch das Bremer Diskotheken- und Kneipenleben und unzähligen Wodka-Kirsch-Drinks waren sie am Neujahrsmorgen im „Swing“ – früher einschlägig bekannt als „Stiefel“- im Steintor gelandet. „Die Christiane geht eigentlich nicht so gerne ins Steintor. Sie ist eher so gutbürgerlich! Aber, weil ich erst mit ihr im „Woody's“ war, ist sie noch mitgekommen“, erzählt Kai S. Lange blieb sie jedoch nicht bei ihrem Freund, sondern fuhr schon vor, nach Hause. Der Angeklagte wollte in einer Stunde nachkommen. Seine Stimmung war nicht mehr so gut – so ganz allein. Also trank er weiter Wodka-Kirsch, wechselte ein paar Male das Lokal, um dann gegen Mittag des 1. Januar erneut im „Swing“ zu landen. Dort geriet er bald in Streit mit zwei Männern. Einer von beiden ist jetzt tot; der andere, Nebenkläger Michael M., trug einige Blessuren davon.

Worüber der Streit ausbrach, wie er ablief und warum er schließlich eskalierte, konnte in den drei Verhandlungstagen nicht geklärt werden. Es gibt beinahe doppelt soviele Versionen vom Ablauf wie es Aussagen gibt: Fast alle Beteiligten und ZeugInnen machen während des Prozesses andere Angaben als bei ihrer Vernehmung durch die Kripo. Wann Kai S. sein Messer zückte und warum er tödlich zustach läßt sich nicht restlos aufklären. „Vielleicht habe ich an die Silvia gedacht?!“, räumt der Angeklagte ein. Er meint seine ehemalige Freundin, die durch einen unglücklichen Sturz aus dem Fenster geistig behindert wurde. Kai S. hatte sie gepflegt, bis sie im Martinshof einen neuen Partner fand und er seine zukünftige Freundin kennenlernte. Aber wo ist da der Zusammenhang?

Das Opfer hatte 15 Stich- und Schnittwunden, ein gebrochenes Nasenbein und ein paar kleinere Verletzungen. Die tödliche Wunde nennt der pathologische Gutachter „veröffentlichungswert: Mit einem Messer 0,4 cm Schädelknochen zu durchstechen, das gibt es ganz, ganz selten! So etwas ist nur möglich, wenn der Kopf nicht pendeln kann, sprich: das Opfer muß reglos auf dem Boden gelegen haben“, schlußfolgert der Gutachter. Das psychologische Gutachten schließt eine „Affekthandlung“ aus und attestiert dem Angeklagten eine „normale Aggressionsbereitschaft“. Wie sich das mit den beiden Vorstrafen (zweimal drei Jahre Gefängnis wegen Raubüberfall und Diebstahl) verträgt, will der Nebenklagevertreter polemisch wissen.

„Keine Suchtmittelabhängigkeit; nicht mal Suchtmittelmißbrauch“ stellte der zweite psychologische Gutachter fest. Er wollte auch nicht einmal von einem „mittelschweren Rausch sprechen“.

Bei seinem Schlußwort kommen dann auch dem Angeklagten die Tränen, als er sich bei der Mutter des Toten und seiner Lebensgefährtin entschuldigt. „Das ist eine Phrase!“, schimpft die Nebenklägerin und greift erneut zum Taschentuch. Der Staatsanwalt mochte dem Angeklagten keine „verminderte Schuldfähigkeit“ zugestehen und forderte sechs Jahre Freiheitsentzug. Der Verteidiger des Kai S. gab dessen „Strafempfindlichkeit“ zu bedenken. Er beantragte eine Strafe unter fünf Jahren, um die „Motivation zu erhalten, zukünftig rechtschaffen zu leben.“ Das Gericht folgte dem Antrag des Staatsanwaltes und verurteilte Kai S. zu sechs Jahren. ali