Die Kleinen im Rampenlicht

Zirkus von Kindern für Kinder gibt es in Schöneberg, Kreuzberg, Treptow und Marzahn / Doch die Anforderungen und das Programm unterscheiden sich  ■ Von Anja Sieber

Mit Syntheziser und Bongos geht es los. Im dunklen Zirkuszelt leuchten hundert kleine Augenpaare. Ungeduldig rutschen die Kinder auf ihren Bänken hin und her, bis endlich der „Tanz der Zigeunerinnen“ beginnt: Riesige Laufbälle rollen durch die Arena, die bunten Tüchermädchen bilden einen Kreis, drei Einräder fahren herum. Begeistert fängt das junge Publikum an, im Rhythmus der Musik mitzuklatschen.

„Jahrmarkt – Clowns & Attraktionen“ heißt das diesjährige Sommerprogramm des Juxircus Schöneberg, ein Zirkus von Kindern für Kinder gemacht. Die drei Clowns lassen nicht lange auf sich warten. Gleich entbrennt ein Streit um einen Stuhl. Der erste Clown läßt sich nicht so leicht vertreiben. Da bricht der zweite in lautes Gejammer aus und holt einen dritten, der es auch nicht besser kann. Als der erste schließlich aufsteht und die beiden anderen mit einem einzigen Schlag umhaut, wundert er sich selbst. Das hat er geschafft? Ringsherum lacht die Kinderschar.

Zaubertricks, komplizierte Jongliernummern, Akrobatik, eine Gesangsnummer, Trapezkunststücke – all das haben die Kinder sich selbst beigebracht. Das heißt, zuerst unterstehen sie der Obhut eines Trainers, und wenn sie den Kinderschuhen entwachsen sind, können sie – wie Diana und Sina – eine Trainingsgruppe selbst übernehmen.

Es geht nicht darum, mit gefährlichen Nummern an den Nerven zu kitzeln. „Zirkus kann auch anders spannend sein“, meint die 17jährige Sina. „Die Nummer muß in Geschichten oder eine Rahmenhandlung eingebaut werden“, verrät sie. Es soll Spaß machen, den Bewegungen zur Musik zuzuschauen und dabei die weiten Kostüme zu bewundern – wie bei den blauschimmernden Wassertröpfchen, die eine virtuose Akrobatie aufführen. Am Ende purzeln sie zu einem Abflußgeräusch wieder hinter die Kulisse.

Anstatt Tiere in der Arena hat dieser Zirkus – wie Projektleiterin Conny Fischer lächelnd behauptet – „die Flöhe im Kopf“. Nicht umsonst nennt er sich „Juxircus“, denn das Ganze soll hauptsächlich eine Riesengaudi sein. „Das Publikum muß das Gefühl haben, daß die Kinder nicht auf die Bühne geprügelt werden“, weiß die junge Jongliertrainerin Sina.

Trotzdem es die Woche über einen festen Probenplan gibt, kommt es dem „Juxircus“ nicht nur auf sein Freizeitangebot an (Rollschuh, Diabolo, Kugellauf, Hochseil, Kautschuk und Steptanz), sondern auch auf die selbstbestimmte und mitverantwortliche Form der Zusammenarbeit. Schon im Vorfeld wird im Team entschieden. „Die Kinder werden an allen Fragen beteiligt“, bekräftigt Sozialpädagogin Fischer. Leistungsorientierte Eltern wird von vornherein abgewunken. Wenn die Nummer einmal nicht so läuft wie einstudiert, fließt keine Träne.

Einen etwas anderen Eindruck bekommt man beim Kinder- und Jugendzirkus „Cabuwazi“, der in zwei Zelten in Kreuzberg und Treptow trainiert. Wenn da in Kreuzberg einmal ein Drahtseilakt in der Vorführung nicht gelingt, kommt bei manchem kleinen Artisten Wut und Verzweiflung hoch. Die Kinder tragen hier keine weiten Kostüme, sondern enganliegende, glänzende Anzüge, die an echten Zirkus erinnern. Wenn die jungen Körper sich darin gelenkig am Trapez hochziehen, wirkt das sehr ästhetisch.

Mehr als im „Juxircus“ herrscht in Kreuzberg die Illusion des schönen Scheins, der menschliche Wesen in kleine Götter verwandelt. Für manches Kreuzberger Kind wird hier nachgeholt, was sie anderswo nicht bekommen: Zuwendung und Beachtung. Auch sie wollen einmal im Rampenlicht stehen – da ist es nur zu ärgerlich, wenn einer die Nummer verpatzt.

Auf dem Sommerprogramm dieses „chaotischen bunten Wanderzirkus“ steht das Stück „Luxus“. Es geht um Umweltverschmutzung. Wenn einer eine Idee hat, wird sie in die Trainingsgruppen hineingetragen. Das themenzentrierte Arbeiten lehnt sich an Agusto Boals politisches „Theater der Unterdrückung“ an. Im Vordergrund steht nicht, wie beim „Juxirkus“, der bloße Spaß an der Sache. Denn der Zirkus „Cabuwazi“ ist ein Sozialprojekt, das die Kinder von der Straße holen will. Er soll ihnen eine Art Familienersatz bieten. Deshalb arbeiten auch einige PädagogInnen hier. Und manchmal wird statt zu proben auch einfach nur über Schulprobleme geredet. Oder über die Lust, von zu Hause abzuhauen.

In Kreuzberg macht man sich Gedanken darüber, wie man es schaffen könnte, „daß die Kinder alles selber machen“, wie sie den Auftritt und die Nummern (Jonglage, Einrad, Kugellaufen, Trampolin, Stelzenlauf und Rhönrad) alleine gestalten und selbst alle Entscheidungen treffen. In der Praxis sieht das freilich anders aus.

„Die Kinder arbeiten hier, sie spielen nicht. Sie wollen was Richtiges lernen“, erzählt Ranulfo, der Mitbegründer des Zirkus „Cabuwazi“. Der Mexikaner war selbst einmal ein Straßenkind und will die kopflose Gewalt unter den Kids verhindern. „Lieber Mut auf dem Seil beweisen als alte Leute im Görlitzer Park bedrohen“, lautet seine Devise. Bei der Probe ist er streng. Ein etwa neunjähriges Mädchen muß so lange auf dem Laufball bleiben, bis es herunterfällt. „Ein bißchen lockerer, bitte“, kritisiert er ihre noch zu starre Haltung.

Aber auch offenes Training steht auf dem Programm. Beispielsweise wird eine Kiste mit Keulen, Ringen oder Stelzen hingestellt und der Trainer sagt: „Nimm's dir. Probier es aus.“ Ohne Zwang. Da schauen viele Kinder auch nur mal so hinein und bleiben dann dabei. Anderen verhilft der Zirkus „Cabuwazi“ sogar zur Berufsfindung. So wurden vor kurzem zwei Jugendliche in die Artistenschule aufgenommen.

Im großen Auftritts- und Probenzelt in Treptow herrscht eine etwas andere Stimmung. Die Kinder, die in Treptow wohnen, kommen zumeist aus geordneten Verhältnissen. Bei vielen Eltern herrscht noch DDR-Geist: Sie lehnen die freie Pädagogik des Kreuzberger Zeltes ab. Aber auch viele der Kinder sind Disziplin gewöhnt und wollen am liebsten andere bestimmen lassen.

Ähnlich verhält es sich mit den Kindern des Marzahner „Springling-Zirkus“. Strenge Regeln herrschen hier vor allem beim Einstudieren der Nummern und der Teilnahme an den täglichen Proben. Trotzdem müssen die Kinder hier – mangels Personals – fast alles selbst übernehmen. Zwar stammen die Texte zu den Stücken aus der Feder des Trainers und Ex-Zirkusartisten Harald Lindner. Doch kümmern sich die Kinder nicht nur um die bei jeder Nummer wechselnden Kulisse, sondern auch um die Requisiten, die Musik und das Licht.

Paukenmusik. Auf der großen Leinwand sind übergroße Steinzeitmenschen in einer Reihe zu sehen. Die Kinder, wie Fred Feuerstein angezogen, schlagen ineinander verkettet wild Rad durch die Arena. Zwei mit bunten Fetzen verzierte Leitern bieten Halt für die gekonnte, akrobatische Nummer, die mit einer Publikumsnummer endet – eine perfekte Zirkusshow. „Gestern, heute, morgen“ nennt sich die Darbietung, die der „Springling-Zirkus“ in diesem Sommer erarbeitet hat. Das Programm fängt in der Urzeit an, zeigt im Mittelalter eine Drahtseilnummer im Till-Eulenspiegel-Kostüm, das 20. Jahrhundert beginnt mit den Bademoden, geht weiter mit einer Radwanderung und endet im Jahr 2000 auf dem Trapez, wo die kleinen Artisten in die Zukunft fliegen. Auf der Leinwand steht eine Rakete zum Start bereit, und in der Manege sausen Einradfahrer als Außerirdische durch den künstlichen Nebel.

Der „Springling-Zirkus“ war schon mal im Fernsehen zu sehen und wurde auf dem Zirkusfestival in Hannover wegen „der Geschlossenheit des Programms“ und der „Disziplin der Kinder“ hochgelobt. „Die Kinder wollen mehr als nur den traditionellen Auf- und Abmarsch“, erläutert der erfahrene Trainer aus der Zirkuswelt. Seit letztem Jahr steckt er das Programm deshalb gern in einen erzählerischen Rahmen. Ging es 1994 „In 80 Minuten um die Welt“, so werden die einzelnen Nummern des diesjährigen Sommerprogramms von einer Bühne aus in den Geschichtsunterricht einer Grundschulklasse eingebettet. Locker und witzig soll es sein, schließlich geht es um Unterhaltung. Da interessieren sich die Schüler nicht so sehr dafür, was vor den ersten Menschen war, sondern wie es sich, nach Adam und Eva, mit dem dritten Menschen auf der Welt so verhielt ...

Den Kindern des „Springling- Zirkus“ sind die Kostüme und die Bühnengestaltung sehr wichtig. „Beim Juxircus haben alle das gleiche an“, finden Katja und Dana, 13 und 15 Jahre alt. Am Niveau seiner Darbietungen haben sie dagegen nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Manchmal ärgern sich die beiden, weil sie wegen der Proben (viermal die Woche) nicht auf eine Geburtstagsparty gehen können. Aber das Einhalten der geforderten Disziplin ist ihnen dann doch wichtiger. „Es macht Spaß. Der Zirkus ist eine sinnvolle Freizeitgestaltung. Außerdem bekommt man eine gute Körperhaltung“, ergänzen Nadine und Nele, 11 und 13 Jahre alt. Herrn Lindner finden sie nett: „Er ist sehr geduldig und macht gerne Witze.“

Ohne seine professionelle Anleitung fühlen sie sich hilflos. Manches ist auch zu gefährlich. Im Angebot steht Leiter-, Sprung- und Drahtseilakrobatik, Ein- und Kunstrad, Hula-Hopp, Jonglieren, Clownerie, Hula-Hula, Trapez und sogar Deckenlauf (Kinder hangeln sich angeseilt mit den Zehen von Schlinge zu Schlinge). „Die Pädagogik wirkt sich in den Darbietungen aus“, kommentiert Harald Lindner stolz diese Einstellung. Zwar darf sich jedes Kind die Nummern selbst auswählen. Aber wenn es noch nicht klappt, wird eben geübt – im intensiven Einzeltraining.