■ Die Unfähigkeit, einen komplizierten Prozeß zu verstehen: Neues Feindbild Rußland?
Geht es um Rußland, scheinen sich die Medien bei uns gleich einem Chirurgen zu verhalten, den bösartige Tumore interessieren, nicht aber gesunde Organe. Läuft die Entwicklung halbwegs stabil ab, wie im ersten Halbjahr 1994, so wird über Rußland so gut wie nichts berichtet. während nunmehr der Krieg in Tschetschenien jeden Tag einen Artikel wert ist.
Wir verurteilen den Krieg in Tschetschenien auf das schärfste, doch sind wir der Meinung, daß daraus keine durchgängig negative politische Entwicklung Rußlands abgeleitet werden kann. Was uns zudem stört, sind die doppelten westlichen Standards. So werden die Kurden durch das türkische Militär ebenso brutal bekämpft wie die Tschetschenen durch das russische, ohne daß die Rede von der Wertegemeinschaft der Nato, der die Türkei angehört, ernsthaft in Frage gestellt würde.
Hinsichtlich Rußlands fällt die weitgehend negative Berichterstattung im Westen aus drei Gründen auf fruchtbaren Boden:
1. Sozialpsychologisch gesehen hing die eigene Identitätsfindung im Westen über vierzig Jahre lang in beträchtlichem Maße von einem Gegenüber ab, dessen kommunistische Ideologie es den „Wessis“ erlaubte, sich selbst als den besseren und überlegenen Teil der Welt zu begreifen. Doch nunmehr sind die Schwächen des eigenen Systems nur noch mühsam zu überdecken. Unbewußt kommt daher die Darstellung des einstigen Feindes im Ost-West-Konflikt, der sich in einer schwierigen Transformationsphase befindet, als Zerrbild (der ewig wodkatrinkende, aggressive, unzivilisierte, zur Demokratie nicht fähige Russe) der westlichen Befindlichkeit entgegen. Sie dient dazu, von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.
2. Aufgrund der extremen Kurzatmigkeit der modernen Massenmedien sind wir an schnelle Abläufe gewöhnt, jedenfalls paßt die ausdauernde Beschäftigung mit einer Transformationsgesellschaft wie der russischen, die sich bisweilen im Stop-and-go-Rhythmus bewegt, nicht in eine Welt, in der nahezu jeder Tag einen neuen Trouble spot bereithält. Vor diesem Hintergrund fehlen die Begriffe, um tatsächlich nachvollziehbar zu machen, was der Aufbau einer neuen Gesellschaftsform im riesigen Rußland ohne demokratische Tradition eigentlich bedeutet.
3. Anscheinend tun sich Nationen im allgemeinen sehr schwer mit der Veränderung ihres Images. Deutsche wissen dies sehr genau, werden sie doch im Ausland auch fünfzig Jahre nach Kriegsende immer mal wieder mit ihrer eigenen NS-Vergangenheit konfrontiert. Bei deutsch-niederländischen Fußballereignissen kann man dies nach wie vor sehr gut beobachten.
Keineswegs gestalten sich die Dinge im Rußland Präsident Jelzins ausschließlich positiv. Eine solche Erwartung ist aber vor dem Hintergrund der russischen Geschichte auch völlig unangemessen. Rußland befindet sich mitten in einem gigantischen Transformationsprozeß, der auf vier Feldern gleichzeitig stattfindet: von der Kommando- zur Marktwirtschaft; von der autoritären Einparteiherrschaft zu Pluralismus und Demokratie; vom Zentralstaat zu einer wie auch immer gearteten Föderation mit mehr Rechten für die Regionen; von der sowjetischen zur russischen Identität. Angesichts dessen kommt es einem Wunder gleich, daß in Rußland das völlige Chaos nicht ausbrach, Schirinowski oder andere Nationalisten nicht an die Macht gekommen sind, es nicht zum Bürgerkrieg kam und die vielfach angekündigte soziale Explosion nicht stattgefunden hat.
Es geht darum, die Widersprüchlichkeit der Entwicklung zu erkennen, das Einerseits-Andererseits. Einerseits sind demokratische Institutionen auf der Basis einer durch Referendum angenommenen Verfassung, die zwar dem Präsidenten große Machtfülle einräumt, aber dennoch eine Teilung der Gewalten vorsieht und ein frei gewähltes Parlament auf der Basis eines Mehrparteiensystems beinhaltet, errichtet worden. Andererseits sind die neuen demokratischen Institutionen und erst recht die neuen Parteien kaum in der Gesellschaft verankert, so daß die Machtministerien zunehmend den Kurs bestimmen. Einerseits wurde die Position der russischen Regionen gestärkt, mit denen Moskau, wie im Falle Tatarstans, sogar besondere Verträge abschloß. Andererseits setzen sich föderalistische Prinzipien im traditionell zentralistischen Rußland nur schwer durch, jedenfalls sind die Gouverneure bisher nicht frei gewählt und herrschen in ihren Gebieten zum Teil ohne ausreichende parlamentarische Kontrolle. Einerseits wurde eine weitgehende Privatisierung durchgeführt, andererseits fielen eine Vielzahl von Betrieben letztlich nur in die Hände der alten Nomenklatura. Einerseits gibt es einige wirklich neue Leute in der Administration, andererseits haben sich die alten Kader in vielen Fällen in die neue Zeit gerettet. Einerseits entsteht in Rußland erstmals eine politische Öffentlichkeit mit einer Vielzahl von zum Teil durchaus regierungskritischen Tageszeitungen und auch privaten Fernsehkanälen sowie einem großen Bücherangebot ohne jegliche Beschränkung, mit zumindest in den größeren Städten regem politischem Leben mit Debatten und offenen Auseinandersetzungen sowie Restaurants, Cafés etc. Andererseits hat die neue politische Öffentlichkeit u.a. auch einen neuen Nationalismus mit bis zu faschistischen Tendenzen hervorgebracht, dessen Bedeutung allerdings nicht überschätzt werden sollte, denn die Bewohner Rußlands sind es gewöhnt, in einem multinationalen Staat zu leben.
Die städtische Bevölkerung wird zunehmend aktiv, es werden zwei oder drei Jobs angenommen und so das Überleben gesichert. Es gibt aber auch Apathie bei einigen Bevölkerungskreisen, vorwiegend auf dem Land und bei den Pensionären. Die Infrastruktur wird in den großen Städten umfassend modernisiert. Wer heute nach Moskau kommt, dem fallen sofort die vielen neuen Geschäfte, Restaurants und renovierten Hotels auf. Doch das russische Hinterland bleibt bei dieser Entwicklung oft weit zurück. Organisierte Kriminalität breitet sich in den Metropolen aus, doch fühlt man sich in Moskau auch nicht unsicherer als in New York City, jedenfalls nicht, wenn man nicht zu den wenigen superreichen „neuen Russen“ gehört.
Schließlich die Korruption, die den Nerv des russischen Staates anfrißt. Doch man stelle sich etwa vor: In einer Millionenstadt wie Moskau werden in kurzer Zeit die einstmals dem Staat gehörenden Wohnungen zugunsten ihrer Bewohner fast zum Nulltarif privatisiert. Kann es einen da wundern, daß die Korruption wuchert, wo doch schon im so wohl organisierten Deutschland bei Baugenehmigungen und Umwandlung von Acker- in Bauland oft nicht alles mit rechten Dingen zugeht?
Ein zentraler Fehler des Westens besteht darin, daß er Rußland und seine politischen Führer gleichsetzt. Damit trägt er zur Fortsetzung des jahrhundertealten Gegensatzes, ja der Feindschaft zwischen dem russischen Bürger (der er im westlichen Sinne bislang nie war) und dem Staat bei. In Wirklichkeit kommt es jedoch darauf an, mit sehr langem Atem diejenigen Elemente der russischen Gesellschaft zu unterstützen, die sich die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Staat und Gesellschaft zum Ziel setzen. Dabei wird es nicht ohne Rückschläge abgehen, und der Westen sollte sich jeglicher Besserwisserei enthalten. Denn eines ist auch sicher: So rosig wie vor einigen Jahren ist das Bild des Westens in Rußland auch nicht mehr. Die meisten gebildeten Russen können der Überschwemmung ihres Landes mit Schokoriegeln und schlecht synchronisierten Soap-operas nun einmal nicht viel abgewinnen, und daß ein großer Teil der westlichen Hilfe, zum Beispiel der Europäischen Union, von vornherein nur dazu bestimmt ist, in andere westliche Taschen umgeleitet zu werden, hat sich inzwischen auch herumgesprochen.
Worauf es in den nächsten Jahren ankommt, ist, trotz aller Rückschläge, wie es der fürchterliche Tschetschenien-Krieg ist, zu versuchen, neue gegenseitige Vorurteile nicht zur Entfaltung kommen zu lassen, Grautöne in der gegenseitigen Einschätzung zuzulassen und gemeinsam am Aufbau freundschaftlicher Beziehungen – etwa durch einen intensiven Jugend-, Kultur- und Sportleraustausch, Städtepartnerschaften und gegenseitigen Tourismus – zu arbeiten, auch dann, wenn Rußland sich Führer wählt, die uns im Westen nicht hunderprozentig passen (Schirinowski wird übrigens wohl kaum darunter sein). Denn es kann nicht einfach darum gehen, daß Rußland in kürzester Zeit das westliche Modell adaptiert, so wie – mit den entsprechenden Friktionen – die Bürger der ehemaligen DDR es getan haben.
Begeben wir uns nicht auf diesen Weg, sondern kultivieren wir weiterhin Vorurteile, besteht die konkrete Gefahr einer neuen Ost- West-Konfrontation, von der in Rußland nur die Nationalisten und Antidemokraten profitieren können und die den Westen erneut eine Menge Geld kosten dürfte, die er – man denke nur an die Arbeitslosigkeit – wahrlich besser verwenden könnte... Irina Busygina/Oliver Thränert
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