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Short Stories from AmericaPocahontas im Püppchenschema

■ Rassistisch, heterosexistisch? Streit um die politische Korrektheit eines Disney-Films

Die neue Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, daß die Anti-Diskriminierungsprogramme in den Schulen und am Arbeitsplatz eingeschränkt werden sollten, macht mir keine großen Sorgen. Der Gerichtshof beschloß, daß jetzt eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Förderung von Minderheiten – in manchen Fällen wird ein bestimmter Prozentsatz an Arbeitsplätzen für Bewerber aus Minderheiten reserviert – streng überprüft werden müßten, um sicherzustellen, daß die Maßnahme die einzige oder beste Methode darstelle, um „ein zwingendes Interesse der Regierung“ zu befriedigen.

Dementsprechend dürften ziemlich viele dieser Maßnahmen verschwinden. Aber das macht mir keine Sorgen, auch wenn die Schwarzen während der 30 Jahre Anti-Diskriminierungsprogramme durchaus eindrucksvolle Erfolge erzielen konnten. Schwarze Freiberufler – Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Architekten, Mathematiker – sind in ihren Berufszweigen inzwischen mit einem höheren prozentualen Anteil vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Das heißt, 15 Prozent der US-Bevölkerung sind schwarz, aber bei den Ärzten sind es mehr als 15 Prozent. Bei den Familien mit College-Ausbildung und zwei Einkommen ist der Einkommensunterschied zwischen Schwarzen und Weißen so gut wie verschwunden.

Für diesen Anstieg sind nicht nur die Anti-Diskriminierungsprogramme verantwortlich, aber viele Ökonomen halten sie dennoch für einen wichtigen Faktor, und ebendiese Ökonomen sind auch beunruhigt über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Ich jedoch habe gar nicht die Zeit, mir über diese Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Sorgen zu machen, denn die ganze letzte Woche war ich vollauf damit beschäftigt, wegen Pocahontas mit den Zähnen zu knirschen.

Pocahontas war also die Tochter des Königs Powhatan, eine Indianerprinzessin, und sie warf sich mit ihrem Leib über Captain John Smith, um ihn vor dem Beil ihres Papas zu beschirmen. Manche Pocahontas-Forscher sind überzeugt, Herr Smith sei gar nicht in Lebensgefahr gewesen, sondern es habe sich um einen der leidenschaftlicheren Initiationsriten gehandelt, bei denen die Indianer so taten, als wollten sie ihn umbringen, und Fräulein Pocahontas zur symbolischen Rettung herbeieilte.

Dazu kamen all die politischen Fragen, die die amerikanische Öffentlichkeit in Atem halten, seit der Film vor Tausenden Zuschauern im Central Park vorab gezeigt wurde, gefolgt von einem eindrucksvollen Feuerwerk. Manche Zuschauer protestierten, der Film sei rassistisch, weil Pocahontas wie eine tolle Puppe aussieht. Sie hat feine Gesichtszüge, große Augen und üppig strömendes Haar. Darin, sagen die Protestierer, spiegeln sich die weißen Schönheitsnormen und die fortgesetzte Diskriminierung andersfarbiger Menschen.

Die New York Times regte sich so gewaltig auf, daß sie auf der Titelseite ein Bild von der echten Pocahontas abdruckte, das auf ihrer Reise nach England gemalt worden war und auf dem sie nicht wie eine tolle Puppe aussieht, sondern wie eine sehr vernünftige Frau, die energisch mit den Spitzen und Rüschen ihres Staatskleids kämpft. Über dieses Problem mußte ich lange nachdenken – ist es sexistisch? rassistisch? heterosexistisch? –, und das forderte viel Zeit, die ich nicht dem Obersten Gerichtshof und seiner Verewigung des Rassenproblems widmen konnte.

Als ich schon fast verzweifelte, rettete mich die Times mit der Erklärung, an dem Film sei nichts auszusetzen. Abgesehen von der Frage, tolle Puppe oder nicht, sei er politisch korrekt; denn Pocahontas – ein Mädchen – spiele die Heldin und fördere den Multikulturalismus. Ich bin froh, daß mir die Times auf die Sprünge geholfen hat, denn fast hätte ich eine Rezension des Inhalts geschrieben, daß Robin Givens, Whitney Houston, Paula Abdul und Halle Berry alles tolle Puppen sind und die Leute gerade deshalb ins Kino gehen. Wenn ich Realismus will, kann ich ja in den Spiegel sehen. Außerdem kann man sich auf Disney-Haar verlassen. Das ist eine der wenigen Konstanten in einer zerbrechlichen Welt. Die Aschenbrödel und Dornröschen meiner Mädchenjahre hatten alle dieses üppig strömende Haar wie Pocahontas. Das Problem mit der politischen Korrektheit ist: Sie hat für Traditionen nichts übrig. Schlimmer als das Thema der tollen Puppe ist die Sache mit der Königlichen Hoheit. Zu meinem Schrecken ist die Presse darauf überhaupt nicht eingegangen. Die Heldin dieses Films ist eine Prinzessin, eine Parasitin des Kastensystems. Wie können wir zulassen, daß unsere Kinder sich mit Galionsfiguren der Königsherrschaft identifizieren? Das hat mich fast gelähmt; da kann ich doch nicht über den Obersten Gerichtshof nachdenken.

Und schließlich folge ich doch nur der weisen Führung von Senator Bob Dole, der Anfang dieses Monats über Hollywood herzog, wegen seiner Pornographie und Gewalt. Der Film, in dem sich die Heldin über Smiths geschmeidigen, muskulösen Körper wirft, lebt von der Attraktion zerfetzter Leibchen und betont die sexistische Vorstellung weiblicher Selbstlosigkeit und die pornographischen Reize weiblicher Unterwerfung. Aber das traut sich niemand zu sagen, denn Fräulein Prinzessin warf sich anscheinend aus freiem Willen, gezwungen weder vom weißen Patriarchat noch von Hollywood. Wenn sie überhaupt von irgend etwas angeschoben wurde, dann von ihrer eigenen uramerikanischen Eins-mit-der-Erde-Kultur, und dagegen kann nun niemand etwas sagen. Ich versuche „das Schweigen zu brechen“, wie es in den Inzest-Erfahrungsbewältigungsgruppen heißt, aber der Gedanke, daß pornographische Phantasien nicht erst mit Hollywood begannen, sondern auch schon die höchst natürlichen Indianer beschäftigten, trifft nirgends auf Gegenliebe. Vermutlich könnte ich die Amerikaner leichter dazu bringen, sich um den Obersten Gerichtshof zu kümmern. Marcia Pally

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