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Distanz zur Politik

Leo Koflers marxistischer Humanismus – Zum Tod des Soziologen ein Nachruf  ■ Von Iring Fetscher

Leo Kofler gehörte zu jenen geistig selbständigen „Schülern“ von Marx, die den Mißbrauch seiner kritischen Theorie durch bürokratische Parteieliten früh erkannt und entschieden bekämpft haben. Dennoch war er – nach der Flucht aus dem Herrschaftsbereich der SED – nicht bereit, sich in den Dienst eines populären Antikommunismus zu stellen. Das machte ihm das Leben und das „Vorwärtskommen“ in der Bundesrepublik nicht leicht. Bekanntgeworden schon durch seine unter dem Pseudonym Stanislaw Warynski 1944 in Bern erschienene „Wissenschaft von der Gesellschaft“, hat er sich seit 1951 immer wieder mit der stalinistischen Verfälschung der ursprünglichen Marxschen Ideen auseinandergesetzt (u.a. „Marxistischer oder stalinistischer Marxismus“, Köln 1951). In der politischen Orientierung am ehesten mit Wolfgang Abendroth vergleichbar, hat sich Kofler vor allem als Publizist und Lehrer an Volkshochschulen sowie als Honorarprofessor betätigt, ohne sich einer politischen Partei anzuschließen. Sein zentraler Gedanke war die Herausarbeitung der humanistischen Zielsetzungen von Marx und Engels auf der einen Seite und eine Fortentwicklung der kritischen und realistischen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne des Marxismus auf der anderen. Dabei zeigte er, daß weder die vereinfachende Reduktion der Marxschen Theorie auf eine deterministische Geschichtsphilosophie, noch die Fixierung auf einen vagen und idealen Utopismus dem Denken von Marx gerecht wird. Marx wußte zum Beispiel, daß es auch unter kapitalistischen Voraussetzungen möglich ist, den Lebensstandard der Arbeiter zu heben. Er war aber überzeugt davon, daß die eigentliche revolutionäre Aufgabe in der Überwindung der entfremdeten Arbeit besteht. Im Ansatz hat Marx – ebenso wie Engels – auch schon den Prozeß der Bürokratisierung der kapitalistischen Gesellschaft beschrieben und ganz sicher unter einer sozialistischen Gesellschaft nicht das verstanden, was daraus unter sowjetischen und ähnlichen Regimen entstanden ist.

Von Marx übernahm Kofler auch das Prinzip des kritischen Vergleichs der existierenden bürgerlichen Gesellschaft mit ihren früheren humanistischen Idealen. Was er „Epoche der bürgerlichen Dekadenz“ nennt, schließt keineswegs kulturelle Sensibilität und künstlerische Hochleistungen aus, wohl aber ist sie mit Zynismus und Resignation der bürgerlichen Eliten verbunden.

Gegen diese – meist tonangebenden – dekadenten und resignierenden Eliten stellt Kofler die Existenz einer höchst heterogenen und unorganisierten „humanistischen Elite“, auf die er einige Hoffnung setzt. „Überall“, so schreibt er, „finden sich in geringerer oder größerer Zahl selbständig denkende Individuen, die sich weder mit dem Geist der nihilistischen Vereinseitigung noch ... dem aristokratisch-volksfeindlichen Subjektivismus abfinden können.“ Es gebe daher neben der alten klassenmäßigen Scheidelinie der Gesellschaft eine zweite: Zu der progressiv-humanistischen Elite gehören manche parteigebundenen Sozialisten und Gewerkschafter nicht, „die sich geistig und praktisch längst integriert“ haben, auch wenn ihnen das nicht einmal voll bewußt ist, während andere, „sogar dem sozialistischen Denken mit kritischen Vorbehalten begegnende und nicht selten von der sozialistischen Praxis enttäuschte“, den kritisch, progressiv-humanistischen Geist sich bewahrt haben („Staat, Gesellschaft und Elite – zwischen Humanismus und Nihilismus“, Ulm 1960, S. 346f.). Es sind diejenigen, die Unmenschlichkeit und Entfremdung nicht hinzunehmen bereit sind und der Verführung zu nihilistischer Resignation widerstanden haben.

Als zwei herausragende Beispiele für diesen Humanismus nennt Kofler Herbert Marcuse und vor allem Bertolt Brecht. An Marcuse kritisiert er allerdings, daß er dazu neige, das Ideal eines glücklichen Lebens jenseits unentfremdeter Tätigkeit in reiner Beschaulichkeit zu suchen, weil er von Sigmund Freuds Bindung der Kultur an Sublimierung beeinflußt gewesen sei. Er nimmt diesen Vorwurf zwar in der Folge halb und halb zurück, mißversteht aber meines Erachtens Marcuses These in „Triebstruktur und Gesellschaft“. Dagegen dürfte seine Kritik an Theodor Adornos Beschreibung des Glückszustandes als „reines Nichtstun“ eher treffen.

An Bertolt Brecht hebt er ganz überzeugend hervor, daß in dessen Gestalten – auch solchen aus der bürgerlichen Klasse wie Puntila – ein optimistisches Bild vom Menschen – ironisch gebrochen – hindurchscheine. „Brechts positive Volksgestalten sind positiv, weil sie beweisen, daß sie in einer Welt der menschlichen Verworfenheit und Charakterlosigkeit und des Egoismus sich ein mehr oder weniger hohes Maß von Selbständigkeit und Haltung bewahrt haben ...“ (S. 357). Damit sei Brecht in einem zu erläuternden Sinne „naiv“. „In scharfer Abgrenzung gegen die moderne nihilistische Kunst und die mit ihr verbundenen dekadenten bürgerlichen Eliten“, lehne Brecht „jede Vereinseitigung und Versubjektivierung, jede Formalisierung und Verjenseitigung ab“ und „trete dem Leben unbefangen, ohne vorgefaßte Vorurteile“ (S. 359) gegenüber.

Leo Kofler war – neben Georg Lukács (mit seinen frühen Arbeiten) und Ernst Bloch sowie Herbert Marcuse einer der profiliertesten kritischen Marxisten in Deutschland. In der Atmosphäre des „kalten Krieges“, an dem er nicht teilnehmen wollte, fand er kaum die Beachtung, die er verdient hätte. Durch seine Polemik gegen Horkheimer und Adorno isolierte er sich auch den Frankfurtern gegenüber. Seine in vielen Kleinverlagen erschienen Schriften verdienen noch immer Beachtung. Sie enthalten weit mehr selbständige und weiterführende Gedanken als Dutzende von Bänden der „offiziellen Parteimarxisten“ aus der ehemaligen DDR. Seine These von der progressiv-humanistischen Elite sucht der Tatsache gerecht zu werden, daß es außerhalb der Parteiorganisationen und sogar in einer gewissen Distanz zur Politik überhaupt Zeitgenossen gibt, die für die idealen Ziele des frühen Marx empfänglich geblieben sind und – trotz allem – nicht resignieren. Durch seinen unerschütterlichen Optimismus hat er dieser Elite Mut vorgelebt.

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