■ Multikulturalismus
: Furcht und Mißtrauen

Multikulturalismus

Furcht und Mißtrauen

Das Wort Multikulturalismus mag aus Kanada kommen, aber in Prag, der historischen Hauptstadt des Königreichs der Tschechen oder – in der Neuzeit – der Tschechoslowakei, mischten und verbanden sich Völker und Kulturen fast immer zum Nutzen aller. Ich möchte nur erwähnen, daß der berühmteste tschechische König (und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation) aus Luxemburg kam, oder daß der dänische Astronom Tycho de Brahe in Prag begraben liegt, wo er einem Habsburger gedient hatte. Und wenn die erzwungene Umsiedlung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg auch noch immer die tschechisch-deutschen Beziehungen belastet, so wurden doch die Deutschen von tschechischen Königen eingeladen, das Land zu kolonisieren und Handel und Handwerk zu fördern. Und schließlich war die Tschechoslowakei traditionell ein sicherer Zufluchtsort für politische Flüchtlinge, aus der Sowjetunion ebenso wie aus Hitlers Deutschland.

Zwei Weltkriege – der eine heiß, der andere kalt – haben zusammen mit zwei Totalitarismen diese Struktur verändert. Auch die Tschechen haben die letzten fünfzig Jahre in sozialer und politischer Isolation gelebt. Diese Tatsache wird das Leben in den postkommunistischen Ländern noch mindestens eine Generation lang prägen. Der einzigartige Genius loci Prags, einstmals eine Stadt dreier Kulturen – der Tschechen, Deutschen und Juden (und seit Entstehung der Tschechoslowakei zunehmend auch der Slowaken) –, ist verschwunden, ohne daß sich bisher ein Ersatz andeutete. Engstirnigkeit und Furcht vor den verschiedensten Feinden bilden statt dessen eine typisch

totalitäre Erbschaft. Es wird Zeit und Mühe kosten, dieses Muster zu ändern.

Die Entfremdung und Unsicherheit gegenüber Fremden wird durch schlechte Sprachkenntnisse vertieft. Das ehemalige Regime hatte wenig Interesse daran, daß die Menschen die Sprachen anderer Menschen lernten, die, wie die meisten Westler, als Feinde galten. Dies mag erklären, warum die früher so engen Beziehungen zwischen den polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Dissidentengruppen das logische Projekt einer Kooperation der Warschauer-Pakt-Länder nicht retten konnten. An ihre Stelle trat eine irrationale Konkurrenz um Zutritt zu Nato und Europäischer Union, obwohl doch hätte klar sein sollen, daß eine gute mitteleuropäische Kooperation das beste Argument für den Anschluß an eine größere Gruppe hätte sein können. Es gab Mißverständnisse nach dem Sturz des Kommunismus, als die Begeisterung im Westen wie im Osten gleichermaßen überschwappte. Damals strömten Menschen aus der westlichen Welt in die Tschechoslowakei, und Prag schien sie alle zu umarmen. Aber bald wurde klar, daß unsere Menschen alle Westler für reich hielten, während diese andererseits alles besser wußten. Bis heute haben wir als Überrest dieser Struktur ein instinktives Mißtrauen gegenüber ausländischen Beratern, das sich unter anderem bei vielen Dienstleistungen in Sonderpreisen für ausländische Besucher niederschlägt.

Eine unbewußte Scheu gegenüber Ausländern könnte sogar zum Zerfall der Tschechoslowakei beigetragen haben, die einer verbreiteten Meinung zufolge – auch eine ganze Reihe von Politikern der unterschiedlichsten Ebenen sind dieser Ansicht – nur den einen Sinn hatte, das Land von Unruhestiftern zu befreien, seien es Roma oder Slowaken (in den Augen vieler Tschechen ohnehin sämtlich Roma). Im Ergebnis begegnete das tschechische Gesetz über den Erwerb der Staatsbürgerschaft sowohl im In- wie im Ausland der Kritik einer Reihe von Menschenrechtsgruppen, ausländischer Regierungen wie auch verschiedener

internationaler Institutionen. Eine Reihe tschechischer Politiker räumte mir gegenüber privat ein, der Wortlaut dieses Gesetzes ziele nur darauf ab, die Roma loszuwerden. Hatten Sie denn Erfolg damit, fragte ich sie. Die Antwort war nein. Schließlich weiß bis heute keine tschechische Behörde, wie viele Roma überhaupt in der Tschechischen Republik leben. Als Jude aus der Slowakei und schwedischer Bürger darf ich dem erwähnten Gesetz zufolge zwar gleichzeitig schwedischer und tschechischer Bürger sein, nicht aber Tscheche und Slowake, was ich ja eigentlich bin.

Während die Slowaken nach der Trennung die einzige willkommene Ausländergruppe zu sein scheinen, sind die Unwillkommenen neben den Zigeunern die Vietnamesen und die Ukrainer. Es gibt eine Gruppe von mehreren tausend Vietnamesen, die sich weitgehend mit Kleinhandel befassen, während die Ukrainer als billige Arbeitskräfte ins Land geholt werden. Im allgemeinen werden sämtliche Völker aus der ehemaligen Sowjetunion (und selbst aus dem ehemaligen Jugoslawien) mit Mißtrauen betrachtet. In einigen Fällen mag das gute Gründe haben, aber die Menschen und selbst die Behörden vergessen manchmal, daß Angehörige der professionellen Mafia gewöhnlich tadellose Papiere besitzen, so daß bei normalen Razzien meistens nur kleine Fische ins Netz gehen.

Die jungen Amerikaner haben während der letzten fünf Jahre durchweg gute Erfahrungen gemacht. Einige leiten inzwischen ziemlich große Firmen, andere arbeiten als Anwälte für internationale Firmen. Viele haben sich hier auf Dauer niedergelassen und tschechische Ehepartner geheiratet. Sie sind vielleicht die einzigen, die dem Ausländerghetto entkommen sind. Aber heute besteht die westliche Gemeinde in Prag zunehmend aus den Firmenvertretern, die ebenso wie die Diplomaten ziemlich isoliert leben. Wie in Wien, das zwar seine Cafés restaurieren konnte, aber nicht ihre einzigartige Atmosphäre, ist Prags Multikulturalismus ein für allemal Vergangenheit. Vielleicht kann sich die Stadt eines Tages wenigstens wieder auf ihre Tradition eines toleranten internationalen Zentrums und einer Zuflucht für die weniger Glücklichen besinnen. Egon T. Lansky

Der Autor ist ehemaliger Redakteur der BBC und von Radio Free Europe. Seit seiner Rückkehr nach Prag arbeitete er als Sprecher der Regierung für die Außenpolitik und als tschechoslowakischer Botschafter beim Europarat.

Übersetzung: Meino Büning