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Kinderseelchen im Off-off-Milieu

„Sid & Nancy“: Ben Becker inszenierte die tödliche Punkliebe mit Schwester Meret sowie Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten  ■ Von Sabine Seifert

Sie liebten und sie haßten sich – wie man so sagt. Zumindest prügelten sie sich. Sid tötete Nancy, soviel man weiß, durch Messerstiche in den Bauch. Geschehen in der Nacht vom 12. Oktober 1978 in einem Zimmer im Chelsea Hotel in New York. Mord, ein verhinderter Doppelselbstmord? Vier Monate später starb Sid Vicious, gerade aus der Untersuchungshaft entlassen und per Kaution auf freien Fuß gesetzt, an einer Überdosis Heroin – im Schlaf.

Sid Vicious war der Bassist der englischen Punkband The Sex Pistols, die bereits Anfang 1978 auseinanderzubrechen begann. Vicious wollte solo weiterarbeiten. Seine Freundin hieß Nancy Spungen. Beide waren fix und fertig. Drogen, Rauschmittel. Und Kinderseelchen.

Es gab viele solcher Kinderseelen, weltweit, der Punk war längst von England nach Europa und in die USA übergeschwappt. Auch Berlin hatte seine Punks, später die besetzten Häuser. Und seit 1979 hatte Berlin die Einstürzenden Neubauten. Mit dabei: Alexander Hacke, der für Elektronik und Percussion zuständig war. Jetzt macht unsere Geschichte einen Sprung. Jetzt spielt nämlich Hacke Sid Vicious – im Theater, in der Kneipe. Und die Geschichte macht auch noch Furore, weil man nämlich aus dem großen Theater rausgeflogen ist.

Ursprünglich sollte die Uraufführung von „Sid & Nancy“ nämlich im Berliner Ensemble stattfinden. Das war, als Eva Mattes der Direktorenrunde zum Gruppenbild mit Dame verhelfen konnte. Dabei auf Talentsuche für ein Nachtfoyer ging – das nun, falls überhaupt, ohne Eva Mattes, ohne Ben Becker, seine Schwester Meret und den Alexander Hacke auskommen muß. Zum Ausweichquartier wurde nicht etwa der Rote Salon oder der dritte Stock der Volksbühne im Osten Berlins, sondern man blieb im eigenen Milieu: im „Ex & Pop“ in Berlin-Schöneberg, das schon einige wilde Musik-Sessions erlebt hat und die Stammkneipe von Ben Becker ist. Mehr ein Schlauch mit Tresen zum Stehen als ein Lokal mit Raum zum Sitzen.

Dennoch hat man nun Stühle dort hineingestellt und für achtzig Zuschauer Platz geschaffen. Klimatisch herrschen extreme Bedingungen. Aber Gott sei Dank müssen ja die Zuschauer nicht mit Lederstiefeln unter der Bettdecke mit dem Hakenkreuz liegen. Meret Becker, die zuletzt in dem Trotta- Mauerfilm „Das Versprechen“ mitgewirkt hat, spielt die kindliche Nancy, Hacke mimt einen eher schlaffen, verwirrten Sid. Einmal haut Hacke auf die Saiten der Baßgitarre, und die Dialoge gehen so: Nancy: „Hör auf!“ – Sid: „Ich bin Bassist.“ – Nancy (gekränkt): „Ich liebe meine Oma!“ Sid: „Ich nicht! (lacht) Da kann ich ja gleich zum Fenster gehen und ihn raushängen!“

Der einunddreißigjährige Ben Becker, auch Filmschauspieler wie seine jüngere Schwester („Tatort“ und demnächst im Kino in Joseph Vilsmaiers Romanverfilmung „Schlafes Bruder“), ist der Verfasser des kurzen Stücks. Auch er war mal ein Punk, und den damals Vierzehnjährigen berührte der Tod der beiden Punkidole sehr. Nun verarbeitet er die traurige Geschichte bewußt naivisierend und ganz schön kitschig: Sid und Nancy gucken meistens ziemlich belämmert drein – wie man sich das halt so vorstellt, wenn die Leute bis oben hin vollgeknallt sind mit Drogen. Sie drückt ihren Teddybären an sich und rupft ihm dann die Arme und die Beine ab, er wirft sich aufs Bett. Zwischendurch schlurft man durchs Zimmer.

Ihr Tod kommt ziemlich plötzlich, dafür ist das Schlußbild wunderhübsch: Der abgedunkelte Raum der Kneipe wird heller, die Rolläden heben sich. Dahinter wird die Straße sichtbar, wohin die beiden blutverschmierten Gestalten eng umschlungen entschwinden. Das szenische Exterieur: Berliner Gaslaternen und eine der ältesten Kneipen Berlins gleich gegenüber: das „Leydicke“. Hier sind schon viele abgestürzt, hier spielen sich, vorzugsweise bei Eierlikör und Fruchtwein, die wahren Dramen des Lebens ab.

Die Becker-Geschwister kommen aus einer Theaterfamilie, Otto Sander ist der Ziehvater der beiden. Künstlerkinder, Szenekinder, Blumenkinder. Für sie gilt nicht, was Leonard Cohen in seinem Song vom „Chelsea Hotel“ in New York geschrieben hat: „We are ugly, but we have the music.“ „I need you, I don't need you“, heißt es bei Cohen weiter – für Sid und Nancy ging es nicht weiter.

Bei Ben und Meret soll es weitergehen: mit Theater, mit Film, mit guten – und anderen Rollen als bisher. Alexander Hacke wiederum hat – als guter Freund von Becker – zwar zum ersten Mal Theater gespielt, nicht aber im Theater: Die Einstürzenden Neubauten gaben bereits 1987 ihr Theaterdebüt als Band im Rockstück „Andi“, das Peter Zadek am Hamburger Schauspielhaus inszenierte. Es ist doch allemal interessanter, off-off zu spielen als bloß off. Milieuwechsel, zumindest für Ben Becker, ist angesagt – da besinnt man sich zunächst am besten aufs eigene.

„I remember you well in the Chelsea Hotel, you were famous, your heart was a legend.“

„Sid & Nancy“. Buch und Regie: Ben Becker. Mit Meret Becker und Alexander Hacke. Bis 31.8. täglich außer Montag, 20.30 Uhr im „Ex & Pop“, Mansteinstraße 14, Berlin-Kreuzberg.

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