Dann kommt der dicke Gott Gemeinsinn

■ Fabelhafte Transzendenz: Neil Postman, der bereits im Fernsehamüsement das tödliche Ende heraufkommen sah, schreibt diesmal über das Ende der Erziehung

Schule mache heutzutage keinen Sinn mehr, denn der kam angeblich immer von den Göttern. Wer also auch weiterhin „sinnvoll“ erziehen wolle, müsse sich entschlossen auf die Suche nach neuen Göttern, neuen Symbolen, nach neuen großen Erzählungen, kurz: auf die Suche nach Sinn machen. Das Ende der Erziehung drohe mit der Ermüdung und Entleerung der alten großen Erzählungen, verkündet der amerikanische Pädagoge Neil Postman in seinem neuen Buch „Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung“.

Damit ist eigentlich nicht nur seine Grundthese, sondern auch schon der ganze Inhalt des Buches berichtet. Postman verbreitet nicht, wie der Titel vielleicht suggeriert, einfachen Endzeit-Pessimismus: Er will schließlich zeigen, „daß Menschen Götter genau so nötig brauchen wie Essen und Trinken“, daß es aber (auch neue) Götter gibt, die keine sind. „Wenn die Schule einen Sinn haben soll, müssen die Schüler, ihre Eltern und ihre Lehrer einen Gott haben, dem sie dienen können, oder, besser noch, mehrere Götter. Wenn sie keine haben, ist die Schule sinnlos.“ Auch wenn sich die Verhältnisse unbestritten verändert haben, sollen die Schüler wieder glauben (lernen): um dem Selbstmord, der Droge, dem Alkohol und der Lust an der Gewalt zu entgehen.

Und auch die Schule soll wieder „ihre Kraft aus metaphysischen Begründungen ziehen“, weil „Schulerziehung“ nur so „im besten Sinne lehrt, wie man lebt“ – und nicht, wie man Geld verdient. Auf dem alten Kontinent hieß das früher noch: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir; von Postman ins Amerikanische übersetzt lautet diese alte Zumutung nun: „Ohne einen transzendentalen Sinn wird die Schulerziehung nicht überleben.“ Und auch hierzulande wird auf die Probleme der Jugend wieder mit einer Debatte um alte und neue Werte, mit dem Unterrichtsfach Religion, Lebensgestaltung und Ethik reagiert.

Nun ist für Postman nicht alles Gott, was glänzt: Falsche Götter sind beispielsweise der Gott der ökonomischen Nützlichkeit, der des Konsums, der Technologie, der Gott des Multikulturalismus. Hilfe bietet Postman der Schule und den Schülern seines Landes – und mit der deutschen Übersetzung seines Buches nun auch uns – mit fünf eigenen Göttern, fünf großen Erzählungen: vom Raumschiff Erde („wir sitzen alle in einem Boot“), vom gefallenen Engel („wir machen alle irgendwann Fehler“), vom amerikanischen Experiment („niemand wird ausgeschlossen“), vom Gesetz der Vielfalt (damit die gealterten Standards sich immer wieder erneuern können) und vom Gemeinsinn.

Wer sich in Europa auch nur ein wenig für pädagogische Diskussionen der zurückliegenden Jahre interessiert hat, wird dieses Buch gelangweilt zur Seite legen, weil es weder irgendein gesellschaftliches Problem erfaßt noch brauchbare Anschlußmöglichkeiten an laufende Ereignisse liefert. Natürlich brauchen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wie die Schule Rechtfertigungen: aber schon wieder durch Götter, durch große Erzählungen, abermals durch Bildung des Geistes? In seiner Rückkehr zu den Geisteswissenschaften erzählt Postman das gleiche wie alle Regierungen: Wo die großen Erzählungen zerfallen, zerfalle das soziale Band; über Wahrheit entscheide eine transzendente Autorität; wo es in der Vielfalt keine übergreifenden Normen mehr gebe, komme die Barbarei unter Menschen. Gegen so viel romantische Sehnsucht nach den verlorenen Göttern zur Lösung des „metaphysischen Problems“ der Schulerziehung reicht wahrscheinlich schon ein einziges Gramm an Nüchternheit des Realismus.

Ohne Schaden könnte man den ersten Teil des Buches – Postmans Installation seiner vier ersten Götter – als Kitsch abtun: Aber dann kommt es dicke. Dann kommt nämlich der dicke Gott Gemeinsinn. Für den „Lehrplan der öffentlichen Schulen von New York“ schlägt Postman – in die Form einer Fabel gekleidet – ernsthaft die „Operation Überleben“ vor: Montags säubern alle 400.000 Kinder der Metropole ihre Viertel, fegen die Straßen, sammeln Abfall und waschen Graffiti von den Wänden. Der Mittwoch gehört dem Schein des Schönen: Die Schüler pflanzen Blumen in der Stadt, mähen Gras und renovieren die Wände der U-Bahnhöfe. Täglich regeln 5.000 Schüler den Verkehr, „was eine Menge Polizisten für andere Aufgaben freisetzt“. College-Studenten dürfen Strafzettel für falsches Parken und das Wegwerfen von Müll schreiben. Wieder andere helfen in Krankenhäusern aus oder bei der Registrierung von Wählern. Und es gibt derer noch mehr, noch entsetzlichere Formen des bildenden Werts der Arbeit, die der Grundschullehrer Postman vorschlägt.

Dieses Programm (die verlorenen Götter mögen geben, daß Arbeitsminister Blüm es nicht in die Hände bekommt), behauptet Postman, bekämpfe die Entfremdung der Schüler und steigere ihr Verantwortungsgefühl. Der letzte Satz seines Buches lautet: „Und ich hoffe, daß die Kindheit überleben wird, da wir ohne sie unser Gefühl dafür verlieren müssen, was es heißt, erwachsen zu sein.“

Die alte abendländische Kulturpädagogik war vom Vertrauen in die bildende Kraft geistiger Inhalte beseelt. Auch bei Postman ist's the same old story every time: Glaubt und arbeitet, und ihr werdet gerettet werden. Bernhard Dieckmann

Neil Postman: „Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung“. Aus dem Englischen von Angelika Friedrich. Berlin Verlag 1995, 247 Seiten, 36 DM.