: Ja, wo leben wir denn?
■ Die Regierung hat Angst, Eigenheime zu besteuern
„Arbeiter, die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen!“ hieß es vor Jahren auf einem Plakat des Graphikers Klaus Staeck. Ein Scherz, den schon damals nicht alle sofort verstanden. Denn die Arbeiter besitzen zwar keine Villen im Tessin, aber doch immerhin viele ein Häuschen im Schwabenland oder anderswo. Und viele Angestellte haben sich erst recht Einfamilienhäuser zusammengespart.
Der gestrige Angriff des Bundesverfassungsgerichts auf die niedrige Immobilienbesteuerung ist daher vor allem auch eine Attacke gegen die Mittelklasse. Deswegen die hektischen Reaktionen: Theo Waigel beeilte sich zu erklären, daß die steuerliche Belastung für die Grundeigentümer natürlich nicht steigen dürfe. Die SPD betonte, daß „selbstgenutztes Wohneigentum“ von höheren Vermögenssteuern ausgenommen bleiben soll. Die eiligen Versprechungen verraten nur, welche Angst umgeht in Deutschland, wenn dem Eigentum Gefahr droht. Eigentum, das heißt hierzulande vor allem das selbst erschuftete Heim, die Familienburg, die an den Nachwuchs weitergegeben wird und den Familienstatus sichern soll. Da darf keiner ran! Dabei ließe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts genau dies zu.
Der Spielraum für einen stärkeren Zugriff des Fiskus solle Erben „nicht übermäßig belasten“ und die ihm zugewachsenen Vermögenswerte nicht „grundlegend beeinträchtigen“, sagen die Richter. Eine höhere Vermögenssteuer solle überdies Ehe und Familie verschonen. Was ist aber beispielsweise mit jenen, die ihr ererbtes Mittelklasseheim nicht bewohnen, sondern lieber verscherbeln wollen? Und was heißt überhaupt „übermäßige Belastung“? Hier gibt es genug Spielraum, eine mutige Politik könnte diesen nutzen. Was wäre denn so schlimm daran, wenn der Sohn auf die ererbte, selbstgenutzte Immobilie ein paar zehntausend Mark Steuern zahlen müßte? Mal praktisch gesprochen: Jede Bank gibt dem jungen Familienvater einen Kredit. Die dann monatlich abzuzahlende Summe wäre weitaus geringer als eine normale Mietbelastung. Aber da ist Waigel vor.
Das ererbte und abbezahlte Haus wieder mit einem kleinen Kredit zu belasten, gewissermaßen zu verstaatlichen – so weit wird es nicht kommen. Wo leben wir denn? In einem Eigentumsstaat! 41 Prozent der Westdeutschen, 26 Prozent der Ostdeutschen wohnen im eigenen Heim. Was viele dabei vergessen: Die stille Mehrheit hat immer noch keinen Grundbesitz. Und erbt wenig oder gar nichts. Barbara Dribbusch
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