: In einsamen Räumen
■ Der amerikanische Soziologe Richard Sennett zur Geschichte der Stadt - und die Berliner Bauwelle
taz: Mr.Sennett, gerade haben Sie in Berlin eine Konferenz zum Thema „Stadt, Nation, Welt“ geleitet. Gleichzeitig erscheint Ihr letztes Buch „Flesh and Stone“ in deutscher Übersetzung, das man auch als Chronik des städtischen Niedergangs von der Antike bis heute lesen könnte. Warum fühlt sich jemand wie Sie, der seit Jahrzehnten Bürger von Greenwich Village ist, so alarmiert von den modernen Großstädten?
Richard Sennett: An den aktuellen Planungen für Berlin kann man sehr genau sehen, was auf uns zukommt. Um eine Umgebung zu schaffen, in der sich die Leute ihrer Körper bewußt werden, muß die Architektur eine Form von Unvollständigkeit bewahren. In Berlin mit seiner großen Bauwelle spielt sich zur Zeit genau das Gegenteil ab. Hier wird verkündet: Seht her, wir machen ein großes, neues, abgeschlossenes Ganzes, nichts wird uns mehr fehlen. Das geht von einzelnen Gebäuden bis hin zu Arealen wie dem Alexanderplatz. Das ist genau der Weg, die Empfindungen abzustumpfen. Man muß eben Formen herstellen, die komplett genug sind, um funktional zu sein, aber nicht so abgeschlossen, daß in ihnen keine Entwicklung, keine Geschichte mehr möglich wird. Gerade die Planungen für die Friedrichstraße laufen aber darauf hinaus, alles nahtlos anzugleichen. Sogar das Material ist saturiert, Erdgeschosse mit Panzerglas, das ist doch die ultimative Einmauerung. Ich finde das wirklich besorgniserregend.
Nun, das ist schließlich Innenstadt, da sind diese Passagen doch keine schlechte Idee, man kann doch nicht überall Wochenmarkt spielen!
Es geht nicht einfach darum, Fußgängermassen zu bewegen. Wenn man sich den Gendarmenmarkt ansieht, merkt man, daß er zwar sehr genau definierte Funktionen hat; aber Schinkel war ein Genie darin, die eigentliche Form doch der Umgebung anzupassen und die Gebäude sehr offen zu lassen. Sie sind enorm zugänglich. Das, finde ich, ist gute Stadtplanung: Es ist genug Definition da, um die Funktionalität zu sichern, aber nicht zuviel, um je wirklich abgeschlossen zu sein.
In „Fleisch und Stein“ geht ein großer Wurf von Athen mit dem nackten Jünglingskörper als eine Art Staatswappen über die christliche Distanz zu den Sakralbauten des alten Rom bis hin zu den Teenagern am Washington Square im New Yorker Village. Ist das teleologisch zu lesen, als Geschichte eines großen Niedergangs?
Greenwich Village ist natürlich nicht einfach die Verlängerung dessen, was die mittelalterliche Stadt war. Aber grundsätzlich geht es mir darum, wie die Menschen ihre Körper mit der gebauten Umgebung in Beziehung setzen, es geht um das Verhältnis zwischen Organischem und Gebautem. Diese Beziehung ist in der westlichen Kultur nie unproblematisch gewesen. Wie kommt es, frage ich mich, daß wir das Gefühl von physischer Stimulation verloren haben? Greenwich Village zum Beispiel ist, für deutsche Maßstäbe, eine Art multikulturelles Paradies; jede auch nur irgendwie denkbare Kultur ist da vertreten. Aber diese Tatsache stellt keine Provokation mehr dar; es gibt zwar Differenz, der aber mit Indifferenz begegnet wird. Die Griechen der Antike waren enorm damit beschäftigt, wer um sie herum lebte; sie fühlten sich ständig wie auf einem Präsentierteller, als seien sie nackt für die anderen. Davon hat Greenwich Village nichts. Wie kam es dazu? Im 18. Jahrhundert dachte man sich den menschlichen Blutkreislauf als Modell für die Stadt (statt der Kreuzgänge vorher oder der Gittermuster). Er funktioniert nur, wenn genügend Bewegungsfreiheit da ist. Seitdem werden Städte nach dem Prinzip möglichst reibungsloser Durchquerbarkeit gebaut. Auf die Art nehme ich natürlich andere Leute nicht mehr wahr.
Man denkt zunächst – gerade wenn sie vom New Yorker Melting Pot sprechen, den es Ihrer Auffassung nach nie gegeben hat – es ginge Ihnen um das in der Tat aktuelle Problem, Partikularinteressen auf irgendeine Art von städtischem Schmalspurkonsens einzuschwören. Aber das scheint es nicht zu sein ...
Nein, überhaupt nicht. Vielleicht habe ich es nicht genügend betont: Ich suche nach einer Alternative zum psychoanalytischen Verständnis des Körpers. Ich stütze mich zwar auf Freuds Konzept der Unlust, bin aber überhaupt nicht damit einverstanden, die Sexualität als eine Art Raster für den gesamten Körper zu benutzen. Ich möchte nicht nur über Sex reden, es soll auch um Geruch, Stimme, Sehen gehen, um die physische Wahrnehmung anderer. Mein Punkt ist, daß diese Wahrnehmung voraussetzt, daß man die Unzulänglichkeit des eigenen Körpers spürt. Was mir Sorgen macht, ist, daß die moderne Kultur einem die Illusion von Selbstgenügsamkeit vermittelt. An diesem Thema habe ich auch mit Michel Foucault gearbeitet. Raum, der zur Interaktion taugt, ist immer nur in Momenten gebaut worden, in denen die Menschen ihren Körper als krisenanfällig erlebt haben. Zum Beispiel die Gärten im mittelalterlichen Paris um Notre-Dame herum sollten die Stadtbewohner in einen Zustand kontemplativer Melancholie versetzen. Aus Lavendel- oder Myrtebüschen entstanden Labyrinthe, in denen sozusagen die Gottsuche in der eigenen Seele versinnbildlicht werden sollte. Solche Gärten waren aus der Erfahrung entstanden, daß die neuen Stadtbewohner niemals allein waren.
Ihr Buch hat mehr als nur einen religiösen Unterton; sie wollen eine Situation wie die nach der Vertreibung aus dem Paradies.
Es geht mir um die Erfahrung der Entwurzelung, darum, Raum nicht als etwas Selbstverständliches zu erleben, aber gleichzeitig auch den eigenen Körper als unter Umständen bedrohlich wahrzunehmen. Im christlichen Denken spielt diese Dialektik eine große Rolle, ebenso wie in der Architektur. Dabei geht es nicht einfach nur um Verkündigungen wie: Hier ist eine Kirche, hier ist ein Friedhof. Was mich am modernen Verhältnis zum Raum stört, ist, daß dieses Bewußtsein für Dialektik verlorengegangen ist. Es geht nur noch um Bewältigung und Ausdehnung, was mit der Geschwindigkeit zusammenhängt. Der Körper ist zwar schnell, aber passiv.
Hat Ihre religiöse Neigung die Zusammenarbeit mit Foucault nicht gestört?
Foucault war alles andere als atheistisch, er hat sich, gerade in den letzten fünf Jahren seines Lebens, sehr viel mit Religion beschäftigt. Wir hatten uns in New York getroffen und beschlossen, gemeinsam etwas über Einsamkeit, solitude, und deren räumliche Dimension zu schreiben.
Was uns verbunden hat, war die Vorstellung, daß es auch eine Subjektivität der Macht gibt, nicht nur ein Objekt. Dann wurde er krank. Seine Ideen änderten sich zum Ende seines Lebens radikal. Plötzlich war er der Überzeugung, daß das Subjekt sich selbst und seine Beziehung zum eigenen Körper konstituieren kann. Es hat mich sehr berührt, solche Gedanken von jemandem zu lesen, dessen Körper langsam zusammenbricht.
Sie berufen sich unter anderem auf Elaine Scarrys „Der Körper im Schmerz“, eine Untersuchung über die philosophischen Implikationen der Folter. Das hat mich gewundert: Im Gegensatz zu Ihnen sagt Scarry doch gerade, daß Schmerz Menschen völlig reduziert, ihnen die Welt wegnimmt, und daß im Grunde der ganze Geist der Zivilisation darin besteht, den Körper so wenig wie möglich spüren zu müssen ...
Das sehe ich eben überhaupt nicht so. Wenn ich „Schmerz“ sage, meine ich nicht den durch Folter hervorgerufenen, sondern Schmerz im Sinne von Frustration, von dem, was Freud als „Unlust“ bezeichnet hat, also das Gefühl, daß einem zur Vollständigkeit etwas fehlt. Die ganze postmoderne Kunst dreht sich doch darum, etwas aus dem Rahmen zu heben, etwas anzudeuten, das dann aber nicht da ist, etwas nur zu zitieren. Es geht um körperliche Passivität ...
... um die Couchpotatos?
Ja genau, Couchpotatos und ihre Behausungen, das ist mein Thema.
In den letzten Monaten hat es eine Reihe sehr schwerer Anschläger auf die sensibelsten Punkte verschiedener Innenstädte gegeben; New York, Tokio, Oklahoma City, Paris – da hatten die Leute ausreichend Gelegenheit, sich ihrer körperlichen Ausgeliefertheit bewußt zu werden. Soweit ich sehen kann, hatte das keineswegs zur Folge, daß sie sich anderen freudiger zuwenden ...
In Oklahoma war das ein bißchen anders. Der Schock bestand vor allem darin zu sehen, wie das, was alle immer reden – also diese ganzen rechtsradikalen Ideologien – plötzlich eine ganz reale, brutale Bedeutung hat. Sogar von den Opfern sagten nachher viele: „Ich bin auch immer gegen den Staat gewesen.“ Als das World Trade Center in die Luft ging, dachten die Leute noch: „Ach, New York, Araber, Juden – wen wundert's“, aber im „Heartland“, das war etwas anderes. Genau das meine ich – aus dieser schrecklichen Erschütterung entsteht Reflexion. Ein Element der Passivität dieser Zeit ist doch, daß alles sagbar ist und Worte keine Folgen haben.
Irgendwie scheint es, als hätten Sie in „Fleisch und Stein“ Ihr in Deutschland bekanntestes Buch, „Tyrannei der Intimität“, umgeschrieben.
Meine Vorfahren kamen sämtlich aus der russischen Großbourgeoisie. Als ich so um die Dreißig war, pflegte ich für diese Art von Habitus eine gewisse Nostalgie; „Tyrannei der Intimität“ war eine Eloge auf diese Kultur. Jetzt habe ich das Gefühl, auf meine alten Tage fange ich an, mich für die Gegenwart zu interessieren, sogar für populäre, aufmunternde Dinge (lacht). Ich werde irgendwie immer linksradikaler. Vielleicht sterbe ich als Anarchist.
Das Gespräch führte
Mariam Niroumand
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