Zwei Züge, eine Blaskapelle und der Krieg in Tschetschenien

■ Unterwegs nach Peking machten 300 Frauen in Moskau Station

Moskau (taz) – Auf dem Weg zur Pekinger Weltfrauenkonferenz hielten in Moskau am Dienstag gleich zwei Züge. Um 10 Uhr morgens kam der sogenannte „UN-Zug“ aus Warschau. Nach China bringt er die RepräsentantInnen offizieller Frauenorganisationen verschiedener Länder, darunter auch aus den USA. Um 12 Uhr mittags ratterte dann auf demselben weißrussischen Bahnhof der von zahlreichen europäischen Alternativ-Frauenorganisationen zusammengestellte Zug aus Paris ein. Die rund 150 UN-Frauen wirkten im Durchschnitt konservativer und etwas älter als ihre NachfolgerInnen. Aber die Freude darüber, sich in Moskau die Füße vertreten zu dürfen, veranlaßte sie, moderat-entfesselt zu den Klängen der Milizkapelle auf dem Bahnsteig zu tanzen. Im übrigen brauchten sie kein Gepäck zu schleppen, denn noch am Abend fuhren sie weiter – in demselben strahlendblauen russischen Peking-Expreß. Der renommierte Zug verfügt über extra Duschwagen und hat einst Parteichef Nikita Chruschtschow persönlich gedient.

Die 160 Alternativ-Frauen hingegen dürfen zwei Tage in der russischen Hauptstadt bleiben – und so mußten sie mit viel Mühe ihre gewaltigen Rucksäcke, ihre Musikinstrumenten sowie umfangreiche Filmausrüstungen aus den Abteilfenstern ins Freie befördern. Auch hier spielte dieselbe Kapelle dieselben munteren Märsche und tanzten die Ankommenden, manche von ihnen küßten sogar die trompetenden Milizionäre. Zwei Georgier hielten das Ganze für eine Privatfeier und baten die Milizionäre vergeblich, ihnen doch für ein paar Extra-Scheinchen ihren Nationaltanz „Lesginka“ zu spielen.

Um 6 Uhr abends begann im großen Saal des Bürgermeisteramtes das Rahmenprogramm für die Pariser Gruppe. Die im Foyer von russischen Kunsthandwerkerinnen zum Kauf dargebotenen Souvenirs – wesentlich geschmackvoller und dabei preiswerter als in den üblichen Läden – erweckten ungeheuchelte Begeisterung. Nebenan drosch eine junge, kräftige Musikantin derart effektiv auf ihr Glockenspiel ein, daß sich manche Interessentin die Ohren zuhielt. Trotzdem vermittelten an vielen Ständen russische Frauenorganisationen Kontakte, Kontakte, Kontakte. Eine echte Überraschung bot das „Mode-Theater“ Slawjanka mit seinen historisierenden Roben aus modernen Materialien. So etwas hatte in Moskau keine erwartet. Als die Slawjanka-Königin in scharlachrotem Krinolinen- Kleid und schweren Boots auf den Laufsteg getanzt kam, pfiffen einige westliche Punkerinnen begeistert durch die Zähne und warfen sich mit ihren Fotoapparaten auf den Boden.

Die RednerInnenliste für die Abenddiskussion verriet russischerseits keinerlei Zensur. Daß die Situation im eigenen Lande ungeschminkt dargestellt wurde, dafür sogten schon die Soldatenmütter Rußlands. Deren Erfahrungen zwischen Tschetschenien-Krieg und Etappen-Kommiß ergänzte eine tschetschenische Journalistin, Suhram Magomedowa. Ihr Auftritt wurde zum emotionalen Höhepunkt des Abends. Frau Magomedowa appellierte an alle Peking-Delegierten, sich auf der Weltkonferenz für einen internationalen Frauen-Kriegsboykott auszusprechen.

„Ich bekomme zum ersten Male in meinem Leben die Möglichkeit, vor solch einem Auditorium aufzutreten“, erklärte sie unter Tränen. „Seit Beginn des unerklärten Krieges in Tschetschenien sind 14.000 Kinder und 16.000 Frauen gestorben... Ich sehe, daß euch meine Aufregung mitnimmt, aber ich selbst kann meine Mutter nicht mehr mit Fassung ansehen, die mit neunzig Jahren schon zum zweiten Mal in ihrem Leben den Genozid an unserem Volk miterlebt und die heute wieder hungern muß.“ Barbara Kerneck