: „Keine Männer und Hunde erlaubt“
Das Martha Washington in New York ist ein veritables Frauenhotel. Reich an Geschichte und Geschichten. Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe und jeder sozialen Schicht treffen sich hier für Tage, manchmal auch Jahre ■ Von Carmen Reinholz
In der 5th Avenue trifft der Spaziergänger in Manhattan auf ein ganz besonderes Gebäude des alten New York. „Hotel Martha Washington“ steht dort in weißer, teils zerbrochener Neonschrift. Die rußgeschwärzte Fassade deutet auf eines der vielen billigen New Yorker Hotels hin. In der unmöblierten Hotelhalle mit den hohen Säulen und den verblichenen Wandmalereien mit Szenen aus dem tiefen Süden bekommt die Besucherin eine Ahnung von altem Glanz.
Aus den beiden immer wieder defekten Holzfahrstühlen kommen ausschließlich Frauen. Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe und jeder sozialen Schicht. Ab und zu steht ein einzelner, verloren wirkender Mann an der Rezeption, dem aber ein weiterer Blick in das Innenleben des Hotels untersagt ist. Die Besuchserlaubnis gilt ganz rigoros nur bis zum Fahrstuhl.
Wir stehen in der Halle des einzigen verbliebenen Frauenhotels der USA. Ein Gesetz verbietet es seit ein paar Jahren, Hotels nur für ein Geschlecht zu führen. Der jetzige Besitzer hat sich in einem langen Gerichtsverfahren die Genehmigung erkämpft, sein „Martha Washington“ als einzige Ausnahme erhalten zu können.
Donald, der große, grauhaarige intellektuelle Kunstsammler, hat das Hotel 1974 gekauft. Seine emotionale Bindung zu dem alten Gebäude ist allerdings schon dreißig Jahre alt. Viel älter ist der Tag der Eröffnung im Jahre 1903. Damals war es Frauen gesetzlich untersagt, ohne Unterschrift eines Mannes eine Wohnung oder ein Hotelzimmer anzumieten, was eine Berufstätigkeit in New York fast unmöglich machte. Im Zuge der Suffragettenbewegung, die 1906 in England entstanden war, wurde das Gesetz 1919 abgeschafft.
Eine Gruppe von Damen des gehobenen Bürgertums erkannte bald die absolute Notwendigkeit einer seriösen Unterkunft für all jene Frauen, die in New York arbeiten wollten, und für solche, die ohne Herrenbegleitung auf Reisen gingen. Die Entscheidung fiel dann auf einen – für Frauen – besonders geschichtsträchtigen Ort, nämlich auf ein ehemaliges Heim für ledige Mütter.
Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich das Martha Washington nicht nur zu einem eleganten Hotel mit einem Damenclub und schönen Restaurant, sondern auch zu einem Zentrum der entstehenden Emanzipationsbewegung. Vor dem Eingang standen Frauen mit großen Werbetafeln „Keine Männer und Hunde erlaubt!“. Damals wurden auch die ersten Protestmärsche nach Washington mit der Forderung nach Gleichberechtigung und Wahlrecht organisiert.
Das Martha Washington wurde sehr schnell zur Unterkunft namhafter weiblicher Persönlichkeiten. Die erste Richterin der USA wohnte dort längere Zeit ebenso wie Judy Garland und die Schauspielerin Veronika Lake, die vor ihrer Karriere eine der Kellnerinnen des Restaurants war. Für Eleanor Roosevelt war es als junges Mädchen die einzige Unterkunft in New York, die ihre Familie als standesgemäß ansah.
Für die besondere Kulisse und das Ambiente des Martha Washington interessierte sich auch die Filmindustrie. Der bekannteste Film, der dort gedreht wurde, ist „Das Tal der Puppen“, und einer der ältesten ist „Next Time We Love“ (1936).
Es paßt zum Stil des Hauses, daß es fast ausschließlich weibliche Mitarbeiter gibt, die oft Jahrzehnte dort tätig sind. Eine Ausnahme in New York. Auch für das Personal war das Martha Washington immer viel mehr als nur ein Arbeitsplatz. Nicht selten entwickelten sie echte Freundschaften zu den langjährigen Gästen.
Da ist das Zimmermädchen Martha, das eine richtige kleine Fangemeinde unter den Gästen hat. Seit zwanzig Jahren ist sie zudem der einzige Kontakt einer fast tauben älteren Dame. Der Hoteldirektor Edgar betätigt sich auch als Psychologe, Lebensretter und Geburtshelfer. Falls ein Hotelzimmer von Sozialhilfe bezahlt wird, führt er den Papierkrieg und ist sehr geduldig, wenn eine Rechnung mal nicht gleich beglichen wird. Selbst im Fall von harmloser Alterssenilität läßt es das Management nicht zu, daß ein langjähriger Gast den Rest seines Lebens in einem Pflegeheim verbringen muß. Wie bei der alten Dame mit den langen grauen Haaren, die den ganzen Tag Müllsäcke mit sich herumträgt, was laut amtlicher Bescheinigung vollkommen harmlos ist.
Das Außergewöhnliche in den 451 Zimmern des Martha Washington ist allerdings, daß hier sehr oft ein ganzes Leben in einem Hotelzimmer gelebt wurde.
Da ist die New Yorkerin Kitty, die zu den alteingesessenen Gästen des Martha Washington gehört. Sie hat sich vor 37 Jahren dort „vorübergehend eingemietet“, und daraus sind, wie bei vielen anderen, Jahrzehnte geworden. Das elegante Äußere, unterstrichen von einer klassischen Perlenkette und einem gekonnten Make-up, läßt ihr Alter nur erahnen. Wegen eines interessanten Jobs als Texterin in einem Verlagshaus und später auch beim Fernsehen mußte Kitty nach New York ziehen. Das Martha Washington war für den Anfang genau die richtige Unterkunft. Nach nunmehr 37 Jahren kann sie sich keinen Grund mehr vorstellen, dort jemals wieder auszuziehen, obwohl ihr in den Jahren immer wieder schöne Wohnungen angeboten wurden. Das Hotelzimmer ist längst ihre Wohnung geworden. Sie hat es nach ihrem Geschmack mit viktorianischen Möbeln und vielen persönlichen Dingen dekoriert. Selbst ihre siebenhundert Schallplatten hat sie untergebracht. Im Bücherregal steht als Erinnerung der Restaurantführer, den Kitty vor Jahren schrieb. „Gourmetdining in New York“ erreichte damals die dritte Auflage.
Kitty ist das Leben im Hotel schon seit ihrer Kindheit vertraut. Ihr Vater war bereits im Alter von 35 ein vermögender Pensionär und bereiste dann mit seiner Familie jahrelang die Welt. Allein vier Jahre verbrachte man in den schönsten Hotels von Nizza, Cannes und Paris. Nach so viel spannendem, farbigem Leben kann sie Midtown Manhattan gegen keinen ruhigen Alterssitz eintauschen.
Kitty wird nie vergessen, wie sie einer Dame, die das Nachbarzimmer bewohnte, durch unzählige Gespräche die Angst nehmen konnte, von Präsident Reagan abgeführt zu werden. Die ehemalige Nachbarin ist längst glücklich verheiratet, und der vorübergehende Zustand geistiger Verwirrung gehört der Vergangenheit an. Ihre Freundschaft blieb.
Eine andere sehr vertraute Bewohnerin von Kittys Nachbarzimmer war die eigene Schwester. Nach einer Scheidung wollte sie der Einsamkeit eines leeren Hauses entkommen. Das neunjährige harmonische Nebeneinander, Zimmertür an Zimmertür, wurde erst durch den Tod der Schwester beendet. Kittys optimistische Lebenseinstellung und ihre besondere Vorliebe für ein Leben in Hotelzimmern konnten auch zwei Eheversuche nicht erschüttern. Zumindest ihr zweiter Anlauf scheiterte nicht am Hotelleben, sondern an dem recht beträchtlichen Altersunterschied. Dieser Ehemann war einfach zu alt für sie, wie es schon ihre Mutter prophezeite. Er war nur fünfzehn Jahre jünger als Kitty.
Eine besonders eindrucksvolle Seite des Lebens im Martha Washington zeigen jene Frauen, die mit ihrem Kind dort leben und es in einem einzigen Hotelzimmer aufziehen. Eine davon ist die farbige New Yorkerin Connie, der man ihre 53 Jahre nicht ansieht.
Der Wunsch nach Abwechslung führte sie als junges Mädchen von Panama nach New York. Das New Yorker Lebensgefühl ließ sie nicht mehr los. Für ein Leben als alleinerziehende Mutter hat sie sich ganz bewußt entschieden. Nach einigen Jahren in der Bronx wurde ihr klar, daß sie, auch wegen ihrer kleinen Tochter, nach Manhattan ziehen mußte. Ihr Arbeitsplatz war dort, und sie wollte ihrer Tochter zudem ein interessantes kulturelles Umfeld ermöglichen. In einem der begehrtesten Stadtteile der Welt war es für sie aber kaum möglich, eine erschwingliche Wohnung zu finden. Eine Freundin erzählte ihr vom Martha Washington, und Connie dachte, daß ein Frauenhotel für sie und ihre kleine Tochter, vielleicht für die Dauer eines Monats, eine akzeptable Möglichkeit wäre.
Aus diesem Monat sind elf Jahre geworden. Irgendwann fiel die Entscheidung, das Hotel als ihr „Zuhause“ anzunehmen. Ihr Zimmer hat sie in den Jahren zu einem eleganten und gemütlichen Apartment gestaltet. Schwarze Designermöbel, schwarze Seidenvorhänge, moderne Bilder über der neuesten Stereoanlage lassen das ehemals einfache Hotelzimmer nicht mehr erahnen. Im Kühlschrank der renovierten winzigen Küche steht französischer Wein für ihre Gäste, die ihr Erstaunen über diese geschickte Gestaltung auf kleinstem Raum nicht verbergen können. Um vom Hotelbetrieb unabhängiger zu sein, hat Connie sich sogar eine eigene Telefonleitung legen lassen. Für die gut verdienende Chefsekretärin gibt es keinen Grund, sich eine richtige Wohnung zu nehmen.
Auch Connies Tochter hat die wenigen Quadratmeter nie als Problem empfunden. Sie nahm Ballettstunden, erhielt Klavierunterricht, begeisterte sich für Sport und verbrachte viele Nachmittage mit ihren Freundinnen im Martha Washington, die das sehr spannend fanden.
Die Kinder, die in dem Hotel leben, werden vom Personal mit erzogen. Der Portier paßt auf, wenn ein Kind alleine das Hotel verläßt, und begleitet es sogar zur Schule. Der erste Tag im College findet nicht selten in Begleitung des Hoteldirektors statt, und Donald, der Inhaber, betrachtet und behandelt die Kinder fast wie seine eigenen. All das gibt den Müttern ein Gefühl der Sicherheit. Connie konnte immer beruhigt ihren teilweise zwei Jobs gleichzeitig nachgehen.
Manchmal steht am Anfang vieler Jahre in einem Hotelzimmer auch nur ein absurder Zufall; wie bei Sheila aus England. Vor fünfzehn Jahren wollte sie ihre Schwester in New York besuchen, die damals an der Rezeption des Martha Washington arbeitete. Als sie die Hotelhalle betrat, sah sie niemanden bis auf einen Mann, der vor einem Schlüsselbord stand. Es war Donald, der zu der Zeit Verwaltungsdirektor des Hotels war. Einen Tag zuvor hatte er in einem Wutanfall das ganze Personal entlassen, darunter auch Sheilas Schwester. Nach fünf Minuten bot Donald der Dame aus England die Leitung der Telefonzentrale an. Sie akzeptierte das Angebot, und er hatte ein Problem weniger. Am nächsten Tag waren übrigens alle anderen Mitarbeiter wieder an ihrem alten Platz.
Sheila, auch eine alleinerziehende Mutter, hatte mit dem neuen Job auch gleich ein neues „Zuhause“ für sich und ihre kleine Tochter gefunden. Connie wurde ihre beste Freundin, und die Kinder der beiden wuchsen gemeinsam im Martha Washington auf.
Nicht immer ist das Leben in einem Hotel eine bewußte Entscheidung. Manchmal steht auch ein tragisches Ereignis dahinter. Eines dieser „traurigen“ Zimmer wird von einer älteren Frau bewohnt. Nach einer lange zurückliegenden Vergewaltigung durch jemanden, dem sie absolut vertraute, erträgt sie nicht einmal mehr die einfache Anwesenheit eines Mannes in ihrer persönlichen Umgebung. Ein Frauenhotel ist ihre einzige Möglichkeit eines „Zuhause“.
Heute ist der Verlust der eigenen Wohnung oft der Ausgangspunkt für einen kürzeren oder längeren Aufenthalt im Martha Washington. Diese Frauen betrachten das Hotel natürlich nicht als ihr Heim, sondern nur als Notunterkunft mit sehr niedriger Miete. Ein Einzelzimmer mit Bad kostet für zwei Wochen 168 Dollar, und die Miete wird immer niedriger, je länger man bleibt. Besondere Mieterschutzgesetze erlauben eine geringfügige Mieterhöhung nur alle sechs Jahre, und ein Hotelzimmer wird ab einer gewissen Zeit als möbliertes Zimmer betrachtet. So kommt es, daß die niedrigste Miete im Martha Washington zur Zeit 31,50 Dollar pro Woche beträgt – in Midtown Manhattan!
Im Wandel der Zeiten hat sich allmählich auch die Klientel des Hauses geändert. Aristokratinnen aus Europa oder Filmstars aus Hollywood steigen heute in einem moderneren Hotel ab. Auch der Dinnerclub Scirocco, in dem Ballettänzerinnen der Metropolitan Opera an den Wochenenden für die Gäste Privatvorstellungen gaben, gehört der Vergangenheit an. In den alten Räumen ist jetzt eine laute Diskothek. Der Restaurantbetrieb wurde schon vor Jahren eingestellt, aber der Gast muß trotzdem nicht auf seinen Kaffee zum Frühstück verzichten. Jeden Morgen pünktlich um 7 Uhr betritt eine zierliche Inderin im bunten Sari die Hotelhalle und bietet in ihrem Kiosk, neben der Rezeption, heißen Kaffee, frisches Gebäck, Zeitungen und andere kleine Notwendigkeiten für ein Leben im Hotel an.
Dort holt sich auch die First Lady der Dominikanischen Republik ihre Tasse Kaffee. Sie ist Stammgast des Hauses und versetzt bei jedem Besuch alle in Aufregung, da sie von Sicherheitsbeamten umgeben ist. Ihre Tochter studiert Englisch in New York, jobbt an der Rezeption und lebt im Martha Washington. Ohne Sicherheitsbeamte.
Seit fünfzehn Jahren gibt Sheila für alle, die im Martha Washington leben, dort arbeiten oder es einfach nur lieben, eine kleine Silvesterparty an der Rezeption. Champagner und Snacks stehen bereit.
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