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Sehr geehrter Herr Ströbele

■ betr.: „Bündnisgrüne geben sich pragmatisch“, taz vom 17. 8. 1995

Erst gestern habe ich mich über die geplanten vorgezogenen Berliner Tunnelbauten geärgert, heute muß ich mich über die Bündnisgrünen ärgern. Interessiert las ich über die als „pragmatisch“ gewertete Vorstellung des Wahlkampfkonzepts Ihrer Partei. Die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ist demnach kein Schwerpunktthema für die Bündnisgrünen? Das ist enttäuschend, zumal die Hauptstadt (!) Berlin die höchsten Arbeitslosenzahlen im Vergleich mit den übrigen Regionen der Republik aufweist: 300.000!

Erst am Montag war von Hannes Koch in der taz (Seite 7) über die im Westen der Stadt um sich greifende Wirtschaftskrise ausführlich berichtet und am Schluß nüchtern festgehalten worden, daß die 209.000 Arbeitslosen und zusätzlich 85.000 Menschen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und ähnlichen „Warteschleifen“ stecken, abgesehen vom Gegenwartskuchen, kein Stück vom Zukunftskuchen (Länderfusion, Dienstleistungsmetropole, High- Tech-Standort für Verkehr und Genforschung, Ost-West-Handelsdrehscheibe) abbekommen werden.

Ich arbeite derzeit mit Arbeitslosen an Vorschlägen zur Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) mit und stellte erstaunt fest, daß bündnisgrüne Positionen nicht herangezogen wurden, und werde mich schlau machen, wieso nicht. Gern würde ich unterstützenswerte Forderungen der Bündnisgrünen in die Vorschläge einbringen, wenn ich nur wüßte, welche, wenn die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit kein Schwerpunktthema zu sein scheint. Die Bündnisgrünen müßten im Berliner Wahlkampf bewußter machen, daß das AFG ein Arbeitsförderungsgesetz mit dem Ziel der Vollbeschäftigung ist und nicht in ein Arbeitskostenabbaugesetz bzw. Arbeitsplatzvernichtungsgesetz für Unternehmen umgebaut werden darf. Der interessanteste und wirkungsvollste Lebensabschnitt mit hart erarbeiteter Lebenserfahrung und Berufserfahrung beginnt mit 50.

Die Berliner Arbeitsämter setzen bereits die beabsichtigte Bonner Schweinerei mit dem „Marktwert“ übereifrig um und begründen dies mit mangelnden Haushaltsmitteln und mit der Auswahl arbeitsmarktpolitischer Prioritäten. Die auf die Bezirke verteilten Haushaltsmittel können nicht flexibel untereinander umgeschichtet werden, wenn in einem Bezirk die Fördermittel aufgrund hoher Nachfrage verbraucht sind, während in einem anderen Bezirk noch genügend Fördermittel aufgrund geringerer Arbeitslosenzahl und dadurch bedingter niedriger Nachfrage reichlich vorhanden sind.

Des weiteren ist nicht verständlich, wieso bei allen Arbeitslosen, unabhängig davon, ob sie Mitglied einer Kirche sind oder nicht, bei der Berechnung der Leistungssätze die Zahlung einer Kirchensteuer zugrunde gelegt und abgezogen wird. [...] Annelies Jurkuns

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