Die andere Seite der Utopie

Die diesjährigen Berliner Festwochen „Berlin–Moskau/Moskau–Berlin“ haben begonnen. Eine Vorschau auf einige Höhepunkte des umfangreichen Konzertprogramms  ■ Von Christine Hohmeyer

Die Geschichte der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland ist eine Geschichte verhinderter Freundschaft. Politisch erwünscht war der Austausch zwischen Ost und West im 20. Jahrhundert nicht – von keiner Seite. Doch allen Verhinderungen zum Trotz gab es wechselseitige Einflüsse und Bereicherungen, sei es, weil KünstlerInnen sich an den Entwicklungen der anderen orientierten, sei es, weil durch Emigration die Kultur Rußlands allmählich in den Westen diffundierte.

Die 45. Berliner Festwochen „Berlin–Moskau/Moskau–Berlin“ werden von einem umfangreichen Konzertprogramm begleitet. Ähnlichkeiten und Parallelen, aber auch die Eigenheiten in der Musik beider Nationen werden zu hören sein – von Michael Glinka angefangen, der als Väterchen der russischen Musik im 19. Jahrhundert die Besinnung auf das eigene musikalische Selbstverständnis forderte, bis hin zu Alfred Schnittke, in dessen polystilistischem Werk Traditionslinien aus Ost und West zusammenlaufen.

Mit den Jahren rund um die Oktoberrevolution wird eine versunkene Zeit präsent gemacht, deren politische Umwälzungen zwar im Bewußtsein der Menschheit geblieben sind, deren musikalische Neuerungen jedoch in Vergessenheit gerieten. Parallel zu dieser Neuordnung einer proletarischen Gesellschaft geriet in Rußland der alte Kunstbegriff ins Wanken, entlud sich eine „phantastische Unvernunft“ (Peter Weiss), die sich als andere Seite der politischen Utopie begreifen läßt.

Der aus Italien verspätet nach Rußland hinübergeschwappte Futurismus wurde in den Vorjahren der Oktoberrevolution zu einer eigenen nationalen Bewegung, von der Majakowski später behauptete, sie habe mit dem italienischen Futurismus nichts gemein.

Tatsächlich waren die meisten der Futuristen nicht nur einer industriell-urban geprägten Kunst und der Einheit aller Künste, sondern auch der marxistischen Philosophie verpflichtet. Einer dieser seither vergessenen Revoluzzer der Kunst und des Lebens ist der Komponist Arthur Lourié (1892 bis 1966). Noch in alter Tradition als Schüler von Aleksandr Glazunov herangewachsen, geriet der junge Lourié ins Fahrwasser der russischen Futuristen. In seinem Werk finden sich schon früh Innovationen wie Zwölftönigkeit und Reihentechnik, aber auch Grenzüberschreitungen in die bildende Kunst. Lourié engagierte sich für die Oktoberrevolution und wurde 1918 sogar Musikkommissar im Kulturministerium. Lange hielt die Begeisterung jedoch nicht vor: 1922 emigrierte Lourié, der sich in seinen politischen Utopien enttäuscht sah, nach Paris.

Wenn die Festwochen jetzt ein ganzes Wochenende für Lourié und seine Zeitgenossen reservieren, so ist das mehr als eine späte Rehabilitation des unbekannten Komponisten – es ist die Aufarbeitung eines vergessenen Zusammenhangs von politischer und künstlerischer Utopie, von Hoffnung und Scheitern.

Damit die vielbeschworene und leider so lädierte deutsch-russische Freundschaft sich aber nicht mit einem Schwelgen in Vergangenheit begnügt, sondern auch praktisch gefestigt wird, sind zu den Berliner Festwochen zahlreiche KünstlerInnen aus Rußland eingeladen.

Diese Gastspielserie beginnt gleich am Samstag mit einem Höhepunkt: dem Pekarsky-Percussions-Ensemble aus Moskau. Einzigartig in der Avantgarde der Schlagzeugmusik ist die Moskauer Gruppe nicht nur deshalb, weil sie eine Raritätensammlung seltener Schlaginstrumente ihr eigen nennt, sondern auch weil sie durch die Einbeziehung theatralischer Elemente in die Musik eine neue Form der „Percussions-Performance“ geschaffen hat.

Herausragend auch das Konzert der „Jungen Deutschen Philharmonie“, in welchem die von den Futuristen geforderte Einheit der Künste wenigstens zum Teil eingelöst wird – mit musikalischen Reflexionen über Bilder von Paul Klee und Arnold Böcklin. Hier zeigt sich stellvertretend bereits die Vielfalt der Festwochen, die nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen den Künsten Grenzen überschreitet.

Pekarsky-Percussions-Ensemble, 2. und 6. 9., 21 Uhr, Hebbel-Theater

Junge Deutsche Philharmonie, 4.9., 20 Uhr, Großer Sendesaal des SFB

Musikalisches Nachtstudio mit Werken von Arthur Lourié, 15.–17. 9., 22.30 Uhr, Kammermusiksaal der Philharmonie

Genaues Programm bitte bei den Berliner Festwochen erfragen unter Telefon 254890.