: Verkorkste und verlorene Einzelwesen
Vom Eros gepeinigt, von Klimt befreit: Eine Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle zeigt den Wiener Apokalyptiker, Maler, Zeichner und Sex-Maniac Egon Schiele als genialen Formgeber und gestrauchelten Selbstsucher ■ Von Christian Gampert
Er malte sich selbst als unterernährtes, haariges Monster mit herausstehenden Beckenknochen und torsoartig abgesägten Beinen. Die Frauen dagegen sind großäugige Wesen mit lasziv geöffneten Mündern und Schenkeln. Männer wirken bei Egon Schiele schon Anfang des Jahrhunderts wie Strafgefangene, seltsam verbogen, mit Fleischfarben wie aus dem anatomischen Atlas; die Frauen sind bleich, mager und auf morbide Weise verführerisch – Baudelaire hätte gerade dieses Verworfene, Hungrige an ihnen gemocht.
Manchmal finden Männer und Frauen zueinander. Dann sieht man konvulsivisch ineinander verknäulte Paare, die leicht animalisch gucken und ganz erstaunt sind über das, was sie da tun. Manchmal heben die Männerakte wie Puppen ihre Hände zu einer abwehrenden Geste. Die Frauen schauen stumm vor sich hin, selbstvergessene, kühle und doch sexualisierte Körper, von denen der Maler magisch angezogen scheint.
Schiele, der obsessive Wilde, der frühreife Provo, der Pornograph – bis weit in die fünfziger Jahre hinein hielten sich diese Vorurteile. Erst spät mochte man akzeptieren, daß Schieles Bilder, seine aggressive und zugleich angstvolle Sexualität nicht nur ein böser Reflex auf die in sich zusammenklappende Donaumonarchie des Ersten Weltkriegs waren, sondern daß Schiele in Koloristik und Linienführung etwas ganz Eigenständiges geleistet hatte. Erst seine gotisch verlängerten Leiber, seine virtuos verzerrte Perspektivik ermöglichte jene traurigen und zugleich wollüstigen Aktdarstellungen, die wir heute an ihm bewundern und die jetzt in Tübingen ausgestellt sind.
Schiele malte an einem Umschlagpunkt der Geschichte. In seiner produktivsten Zeit, den Jahren zwischen 1910 und 1918, ist auch im Alltag der nahende Kollaps der k. u. k. Monarchie, einer nur noch von Konventionen zusammengehaltenen großbürgerlichen Welt schon spürbar. Insofern ist es nur folgerichtig, daß man den depressiv aufmüpfigen Schiele heute wiederentdeckt: Auch der Zusammenbruch des realsozialistischen Kosmos, des bei aller gegenseitigen Bedrohung doch so behaglich ausbalancierten Ost-West-Konflikts hat zu einer Situation der Leere geführt, in der keiner so genau weiß, wohin es denn nun geht – auch künstlerisch nicht.
Schieles Aufstieg zur Kultfigur aber wäre nicht möglich gewesen ohne den Wiener Augenarzt Rudolf Leonhard, der schon als Student anfing, Schiele zu kaufen. Für seine Sammlung baut der österreichische Staat nun ein eigenes Museum. Die grandiose Tübinger Ausstellung nimmt dieses Projekt sozusagen vorweg und dokumentiert alle Phasen des Schieleschen ×uvres – und das heißt vor allem, seine Ablösung von den dekorativen Jugendstilmalereien seiner Vaterfigur Gustav Klimt hin zu einer schärferen Wahrnehmung, hin zur expressionistischen Geste.
Kunstgeschichtlich hat Schiele praktisch nichts zu tun mit den zeitgleich arbeitenden Kubisten und Fauvisten. Er ist ein Einzelgänger, der sich ikonographisch eher in der Tradition eines Dürer oder Holbein sieht, der sich an alten Heiligenbildern orientiert oder eine „Liegende Frau“ 1917 wie einen Barockengel in die Laken drapiert. Bisweilen liefert er wütende Öl- Exzesse à la van Gogh oder leiht bei Munch. Entscheidend scheint das Verhältnis zu Klimt, dem priesterlichen Freak. Die Ausstellung belegt sehr schön Schieles Abwendung von Klimts ätherischem Blattgold, vom seidigen In-Schönheit-Sterben.
Zwar zeigt sich Schiele (in einem großformatigen Ölbild) gemeinsam mit dem Meister als „Eremit“, paraphrasiert dann aber Klimts Paradebild „Der Kuß“ auf bösartige Weise: In Schieles „Liebkosung“ von 1912, auch „Kardinal und Nonne“ geheißen, sind zwei verschreckte Kirchenmenschen dunkel ineinander verkeilt, die Hände des Kardinals zum Gebet erigiert, und unter dem Ornat knien grobe, nackte, fleischige Beine. Trieb statt Schönmalerei.
Ähnlich wie bei Kokoschka, der pubertierende Zirkuskinder in tänzerischen Posen zeichnete, werden bei Schiele die Sujets sozialkritischer und die Mittel aggressiver und sparsamer. Wo andere verbissen stricheln, schafft er mit wenigen scharfen Linien Volumina im Raum. Hinzu kommt eine weißliche, dann wieder moros dunkle Farbgebung. Der deutsche Expressionismus zeigte Typen und Karikaturen, er war anklagend und höhnisch; Schiele sieht lauter verkorkste, im Vakuum verlorene Einzelwesen, die von ihrer Sexualität wie geschlagen erscheinen, der Körper als letzter Rückzugsort – die Männer (oft Schiele selbst) immer mit diesem stechenden Ausdruck in den Augen, einer Mischung aus Weltverachtung und Hilfeschrei.
Es ist eine beliebte Übung der Rezensenten, bei Nennung des Namens Schiele reflexartig die Worte Eros und Thanatos hervorzustoßen. Stimmt schon – das dekadent fiebernde Wien der Jahrhundertwende, Gustav Mahler, Arthur Schnitzler, Krieg und angeblich unmittelbar bevorstehender Weltuntergang ... ach ja. Und doch ist Schieles zwanghaft quälerischer Zug, der aus seinen Selbstdarstellungen spricht, aus einer gesellschaftlichen Folie allein nicht erklärbar. Die seelenverwandte Lyrik von Trakl, Heym oder später Benn hat jedenfalls nicht dies selbstkasteiende Moment. Der Mensch ein streunendes, sexuell nahrungsbedürftiges Tier, zurückgeworfen auf Triebe und Sehnsüchte – das hat bei Schiele auch einen ganz persönlichen Hintergrund, von dem wenig bekannt ist: Ein syphilitischer Vater, der früh stirbt, eine verständnislose kalte Mutter, innige Beziehung zur Schwester, die ihm lange Modell steht.
Die inzestuös angehauchte Familiengeschichte ist so krank wie die Zeit, für die Schiele steht. In seinen Eigenportraits sind Ruhelosigkeit und Selbsthaß ebenso präsent wie die erotische Besessenheit und eine merkwürdige Totenstarre. „Alles ist lebend tot“ schrieb er ins Tagebuch. In diesem Zwischenreich ist schwer sein. Schiele verkleidete sich als „Prediger“ und „Eremit“, als „Selbstseher“ und niedergedrückter „Lyriker“, der den ganzen Körper zur Harfe macht. Oft ist ein leichenartiger „Doppelgänger“ als Beobachter dabei.
Die Darstellerinnen der Frauenakte dagegen haben mehr fordernde Energie, die manchmal einen recht nuttigen Zug annimmt. Schiele entblößt die weibliche Scham wie einen Fetisch oder umspielt sie (als geheimes Bildmittel) mit knienden, liegenden oder diagonalen Stellungen, in Rückenakten oder mit überdimensionalen Beinen. Auch der zeichnerische Zugriff ist hier gewalttätig, schrill und bestimmt. Er wird braver und konventioneller, sobald Schiele (in seinen letzten Jahren) die eigene Frau portraitiert. Die Ehe ist eben eine furchtbare Sache.
So nebenbei hat Schiele neusachlich kalte Stadtlandschaften gemalt, blinde Mütter und Schwangere „mit grünem Bauch“ – allerorten ist Untergang. Auch für ihn selbst: 28jährig an der spanischen Grippe zu krepieren, das ist ein blöder Tod, ein Unfall.
Der Spiegel hat Schiele nun kurzerhand zum Idol der GenerationX ernannt, zum Popstar, der die Sexualisierung der heutigen Gesellschaft bereits 1910 rebellisch vorwegnahm. Da mag schon was dran sein. Nur vergißt man hinter all der mit trauriger Coolness vorgezeigten Geschlechtlichkeit sehr schnell, daß Schiele ein Revolutionär der Form war, der Linie, der Perspektive. In ihrer Drastik haben seine Bilder tatsächlich einiges gemein mit dem Körperkult in Werbung und Videoclips. Bei Schiele ist das nur viel verzweifelter, konzentrierter, einsamer und widersprüchlicher, das Häßliche verführerisch und das Morbide schön. Man sieht bei Schiele etwas, was die schnellen Bilder nie sagen werden: Auch der bleibt ein Fremder, den man liebt.
Kunsthalle Tübingen, bis 10. Dezember; Katalog 39 DM. Die Ausstellung ist danach in Düsseldorf (Kunstsammlung Nordrhein- Westfalen, 21.12. bis 10.3.1996) und in der Hamburger Kunsthalle (22.3. bis 16.6.1996) zu sehen.
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