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■ Der russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow über Präsident Jelzin, Tschetschenien und den Krieg in Bosnien„Ich soll selbst zurücktreten“

taz: Die Menschenrechtskommission bei Präsident Boris Jelzin ist aufgelöst, Sie sind entlassen worden. Was machen Sie jetzt?

Kowaljow: Offiziell ist die Auslösung des Kommission noch nicht. Ein entsprechender Ukas ist zwar vorbereitet, aber noch nicht verabschiedet worden. So richtig kann man sich dazu offenbar nicht durchringen. Mein Büro in Moskau hat man mir jedoch bereits weggenommen. Am liebsten sähe man es wohl, wenn ich freiwillig von diesem Posten zurücktrete.

Kein Wunder, wenn Sie den Präsidenten Jelzin vor dem Verfassungsgericht wegen des Befehls zum Einmarsch in Tschetschenien einen „Verbrecher genannt haben.

Nicht ganz. Ich habe dort gesagt: „Ich bitte mir eine Metapher zu verzeihen, aber in gewissem Sinne hat der Präsident ein konstitutionelles Verbrechen begangen.“ Ich verstehe, daß das Abweichen von den Prinzipien der Verfassung kein Verbrechen im Sinne des Kriminalkodex ist. Aber es fehlt eben ein entsprechender Ausdruck für diese spezifische Rechtsverletzung. Wenn sich der Präsident durch meine Worte beleidigt fühlt, kann er mich ja verklagen.

Nun werden aber unter russischen Politikern die Konflikte heute nicht vor Gericht ausgetragen, sondern indem man sich prügelt. Jelzin ist ein recht gut trainierter Tennisspieler.

(lacht) Und ich habe mich in meiner Jugend mal mit Boxen beschäftigt.

In diesen Tagen wird im Westen wieder über Rußland spekuliert. Anlaß sind die scharfen Äußerungen Präsident Jelzins zu den Bombardements der Nato auf bosnisch-serbische Stellungen in und um Sarajevo. Was sagen Sie dazu?

Die Aktionen der Nato sind schon in Rache übergegangen und decken die neuen Angriffe zweier miteinander verbündeter Seiten dieses Konfliktes – der bosnischen und kroatischen. Es ist nicht Sache der Weltgesellschaft, gleichzeitig als Richter und als Vollstrecker der Strafe aufzutreten.

Wie bewerten Sie die Aufteilungspläne für Ex-Jugoslawien, über die gerade verhandelt wird?

Die Teilung einer so leidgeprüften Region, sei es nun nach ethnischen, religiösen oder sonstigen Prinzipien, kann nicht zu einer friedlichen Regelung des Konfliktes führen. Ein monoethnischer oder monoreligiöser Staat ist heute ein Anachronismus und kann sich wohl kaum für lange Zeit als stabil erweisen. In dieser Hinsicht kann man der Weltgemeinschaft vorwerfen, daß sie hier Benzin ins Feuer gießt.

Gleichzeitig hat die Mehrheit des russischen Parlaments, der Duma, die einseitige Aufhebung des Waffenembargos gegen die Serben gefordert. Das würde den Krieg auch nicht gerade beenden.

Diese Beschlüsse der Staatsduma sind albern und ungerecht. Ich habe auch dagegen gestimmt. Die Entscheidung, das Waffenembargo gegen nur eine von zwei miteinander kämpfenden Seiten aufzugeben, ist ihrer Natur nach nicht friedensstiftend. Ich zweifle nicht daran, daß dem Krieg in Bosnien gerade die serbische Seite seinen Maßstab und seine Zerstörungskraft verliehen hat. Ich zweifle auch nicht daran, daß die serbische Seite zur Initiatorin sehr grober und zahlreicher Verletzungen der Menschenrechte geworden ist. Wenn auch als Folge davon alle an diesem Konflikt beteiligten Seiten Menschenrechtsverletzungen begangen haben.

Sie haben sich in den vergangenen Monaten vor allem in Tschetschenien engagiert. Zu welchen Überlegungen führt Sie Ihre jetzt geäußerte Position zu Bosnien in bezug auf den künftigen Status Tschetscheniens?

Ich halte es für einen schweren Fehler der russischen Seite, für politische Verhandlungen als Vorleistung das Bekenntnis zu erwarten: Tschetschenien ist ein Teil der russischen Föderation. Der Status Tschetscheniens müßte eben gerade das Resultat politischer Verhandlungen darüber sein.

Die tschetschenische Seite macht diesen Fehler unter umgekehrtem Vorzeichen. Ich bin nahezu sicher, daß die überwiegende Mehrheit der TschetschenInnen nicht mehr innerhalb der Grenzen Rußlands bleiben wollen. Aber bei der Verwirklichung dieses Wunsches taucht eine große Anzahl von Schwierigkeiten auf: Wie kann man einen solchen Beschluß legitim fassen? Wie sind konkret die Grenzen zu ziehen? Wie kann man garantieren, daß nach dieser Selbständigkeit keine Gruppe der Bevölkerung dort diskriminiert wird?

In Gebieten mit ethnisch stark gemischter Bevölkerung wie im Kaukasus gibt es Schwierigkeiten mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Die beiden UN-Prinzipien des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und der Unantastbarkeit der Grenzen bestehender Staaten sind unvereinbar. Um sie anwendbar zu machen, hätte man wenigstens definieren müssen, in welchen Fällen das eine gilt und in welchen das andere. Und man hätte definieren müssen, was das eigentlich ist, ein Volk, dem man das Recht auf Selbstbestimmung zusprechen kann.

Daß dies nicht geschehen ist, daran trifft die UdSSR als ehemaliges Mitglied des UN-Sicherheitsrats bedeutende Mitschuld. Solche nebulösen Formulierungen kamen der Sowjetunion natürlich bei der Unterstützung sogenannter nationaler Befreiungsbewegungen zupaß.

War das auch Ausdruck der russischen Psyche, die Sie oft als „krank“ bezeichnet haben?

Ich fürchte, daß es sich bei dieser Krankheit nicht um eine einfache Neurose handelt. Das ist ein ernsthafter organischer Defekt des Gehirns.

Können Sie ein Symptom nennen?

Da ist zum Beispiel die traditionelle russische Xenophobie. Noch immer glauben wir, es sei patriotisch, damit zu prahlen, wie großartig alles bei uns ist. Wir meinen, daß man vor Ausländern stets auf der Hut sein muß, weil sie von vornherein mit üblen Absichten angereist kommen.

Die letzten politischen Ereignisse in unserem Land deuten auf eine Verschlimmerung der Krankheit. Wir werden in dienstlichen Gesprächen erneut zur Wachsamkeit gegenüber Ausländern aufgefordert. Wenn Sie mich in meinem Büro in der Administration des Präsidenten hätten besuchen wollen, hätte ich das mindestens 24 Stunden vorher beantragen müssen. Für einen Russen hingegen könnte ich den Passierschein innerhalb einer halben Stunde telefonisch anfordern.

Wie wird im Zuge dieser Entwicklungen die nächste Duma aussehen?

Ich fürchte, noch schlimmer als die jetzige. Interview:

Barbara Kerneck, Moskau

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