: Zielgruppenschwindel im Radiokarussell
■ Die HAM und die „kalte Lizensierung“ geänderter Programme privater Radiosender
Ringtausch. Die französische Aktiengesellschaft NRJ, die seit Jahren durch Übernahmen bankrotter Radiosender an einem europaweiten Jugendradionetz bastelt, will ab dem 3. Oktober in Hamburg den Stab übernehmen, den OK Radio im vergangenen Monat hingeworfen hat: NRJ will mit dem öffentlich-rechtlichen CD-Wechsler N-Joy Radio um die Einschaltquoten bei der Dancefloor-orientierten Jugend konkurrieren. Dies beschloß vor wenigen Tagen die Gesellschafterversammlung von Jazz-Welle Hamburg, in der der Hauptfinanzier NRJ das Sagen hat.
Radio Energy wird auf der Frequenz 97,1 senden, auf der zur Zeit noch das Programm der Jazzwelle Plus zu hören ist. Nachdem NRJ im Frühjahr in den heruntergewirtschafteten Sender einstieg, wurde von der deutschen NRJ-Zentrale in München das Personal komplett ausgetauscht.
Die Hamburgische Anstalt für neue Medien (HAM) hat die „Zulassungsänderung“ für die Frequenz bereits „in Aussicht gestellt“. HAM-Vize-Direktor Lothar Jene: „Die können anfangen“. Die Medienanstalt begründet ihre Weichenstellung damit, daß OK Radio seit seiner neuen Ausrichtung auf ältere HörerInnenschichten genau jenes Marktsegment bedient, das die HAM ursprünglich für Radio Energy vorgesehen hatte. Da OK-Radio, das sein Programm heute unter dem Namen Magic 95 ausstrahlt, es nicht für nötig hielt, die durchgeführte Änderung des Programmformats im Vorwege der HAM mitzuteilen, prüft diese derzeit noch, ob sie die genehmigungspflichtige Änderung von Sendernamen, Musikfarbe und Zielgruppe absegnen wird.
Außer den Jazzliebhabern ärgert sich auch Radio Hamburg-Programmdirektor Rainer Cabanis über die Eingliederung des mittelständischen Radio-Betriebs in die europaweit 300 Stationen umfassende NRJ-Kette. Da Cabanis selbst mit dem Gedanken spielte, das alte OK-Programm zu beerben, denkt er nun darüber nach, eine Neuausschreibung der Frequenz durch die HAM einzuklagen. Die wiederum hatte sich seit Jahren darum bemüht, die Jazzwelle – die 1990 als gemeinnütziges Radio an der Stelle des damaligen Radio St. Pauli lizensiert wurde – an einen Konzern zu verkaufen. Ursprünglicher Favorit der HAM war die Bertelsmann-Gruppe gewesen, die ein Jazz-Analogon zu KlassikRadio aufbauen wollte. Die „kalte Lizensierung“ völlig neuer Programme auf dem Wege des Aufkaufs maroder Sender ist in Hamburg kein Novum: Schon 1988 war auf diesem Wege – mit freundlicher Genehmigung der Medienanstalt – das journalistisch orientierte Radio 107 zum Schnulzensender Alsterradio mutiert. Marcel Stötzler
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