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Ein Remis, das das Spiel verliert

Humorlose und weitgehend klassefreie Stichprobe: Wie Uerdingen und Schalke 04 beim 1:1 die Mittelmäßigkeit deutschen Fußballschaffens belegen  ■ Aus Krefeld Bernd Müllender

Was ist nicht alles schon statistisch erfaßt worden im Fußball: Trefferquoten pro Spielminute, Ballkontakthäufigkeiten nach Trikotfarbe, Kopfballunwahrscheinlichkeiten nach Linksflanken von Rechtsfüßlern, Schrifttypen der Rückennummern und Sternzeichen des Spielers, Auswirkungen von Pokalgesetzparagraphen auf die Krümmungswinkel von Bananenflanken et cetera.

Was fehlt, ist eine viel banalere und wichtigere Statistik: Welches Profiteam wohl am häufigsten in den Schlußminuten ein Heimspiel noch gekippt hat – und das ohne jede Ausnahme auf das gleiche der beiden Tore. Kaum ein Zweifel, daß Uerdingen 05 diese Hitliste anführt.

Seit den Regionalligazeiten in den siebziger Jahren gehört es zur Dramaturgie Krefelder Fußballs, Spiele in Serie letztminutig zu kippen. Damals meist beteiligt: ein junger Mann namens Manni Burgsmüller, gerne sogar per Doppelschlag in der Schlußphase – Höhepunkte einer langen Serie waren Spvgg. Erkenschwick (4:3 nach 1:3 in fünf Schlußminuten) oder Eintracht Frankfurt im Pokal (6:3 n.V., nach 1:3 bis zur 87. Minute). Im gleichen Ostkurvenkasten der Grotenburg wurde Dynamo Dresden 1986 im legendären 7:3-Europapokal-Match erbarmungslos eliminiert, und hier rettete vor einem Vierteljahr Rainer Krieg den Krefeldern gegen Bochum in der Nachspielzeit den Klassenerhalt.

Und jetzt war halt Schalke dran: Krefelds niederländischer Mittelstürmer Erik Meijer katapultierte die Kugel in der 88. Minute mit einem mächtigen Kopfstoß zum Ausgleich ins Netz. Und die historische Forschung war auf den Punkt bestätigt.

Das glückliche Remis paßt zu diesem Kampf-Duell der Unzulänglichen. Viel wurde in der vergangenen Woche – nach den entlarvenden Niederlagen von vier Bundeligateams im Europacup – über den internationalen Stellenwert hiesiger Balltreterei philosophiert. Dieses Spiel, vor immerhin 25.000 Augenzeugen, gab ein kleines Stück Antwort: Es war eine beeindruckende Dokumentation deutscher Fußballmittelmäßigkeit zweier Mittelfeldmannschaften. Kampfsport ohne Inspiration, viele Zufallsaktionen, Halbchancen und Verlegenheitsschüsse. Zerstörerischer Kampfgeist und Disziplin reichen aus, um sich gegenseitig zu kontrollieren. Dabei wurde nicht einmal gemauert – aber was fehlt, sind halt spielkulturelle Momente der Intuition und Kombinatorik über den Querpaß hinaus.

Immerhin: Da der KFC Uerdingen nur das eine Gegentor durch Anderbrügge kassierte, hat das Team nach wie vor mit jetzt vier Gegentoren in sechs Spielen die beste Abwehr der Liga. Zur Defensivstärke gehört ein Mann namens Helmut Rahner. Derart humorlos und brutal zu grätschen, zu sensen und zu ackern, ist eine Klasse für sich. Uerdingens Übungsleiter Friedhelm Funkel meinte denn auch, sein Stopper habe „sehr engagiert gespielt“ – und er erntete dafür viel Gelächter und sehr zitronige Gesichtszüge seines Schalker Kollegen Jörg Berger.

Aber so unrecht hatte Funkel nicht: Rahner nutzt mit urwüchsigen Kräften und martialischer Hemmungslosigkeit (trotz Verwarnung schon nach drei Minuten) jene unsinnige Regel, wonach fast alles erlaubt ist, wenn nur irgendwie en passant auch der Ball getroffen wird. Und so fegt er halt unbekümmert gegen alles Bewegliche, Ball wie Beine, daß man Angst um die weitere Berufsfähigkeit seines Gegenspielers haben muß (am Samstag war der arme Uwe Weidemann dran). Den besten Beweis seiner muskulären Potenzen lieferte Rahner in der 70. Minute: Gemeinsam mit Weidemann war er im Infight der Strohblonden zu Boden gegangen, und im Auseinanderknäueln schaffte er es, allein per Kopf und Nackenmuskulatur seinen aufstrebenden Gegenspieler komplett auszuhebeln und erneut zu Boden zu schicken.

Die neue Dreipunkteregel sorgt dafür, daß mit einem Glückstreffer kurz vor Schluß dem Gegner zwei Punkte auf einen Streich geraubt werden. Jörg Berger meinte gar, seine Elf habe „das Spiel verloren“. Dabei war es allein das Spiel, das verlor. Zufrieden waren nur die Teams vom holländischen Fernsehen: Sie hatten einen starken Schalker Youri Mulder und einen glücksstrahlenden Erik Meijer filmen und interviewen dürfen. Der deutsche Fußball – ein Glücksfall manchmal nur für die Nachbarn.

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