Neues Spielbein gesucht

Jenseits von Parlamentarismus und APO, Bürgerversicherung statt Grundsicherung: Vorschläge zu einer neuen Programmatik der Grünen  ■ Von J. Raschke und F. Nullmeier

Mehr als ein Programm brauchen die Grünen eine Debatte. Beides kann miteinander verbunden sein, muß es aber nicht. Die Grünen haben seit fünf Jahren nicht mehr grundsätzlich diskutiert.

Aus Gründen der Selbstvergewisserung von Aktiven und Anhängern, deren Orientierungsbedürfnisse seit Jahren wachsen, und wegen der Ausstrahlung einer Partei, die mittel- und langfristig nur über relevante Diskurse zu erhalten ist, müssen die Grünen sich in der Kunst bewähren, Ideenpolitik jenseits von Entideologisierung und Ideologisierung zu entwickeln.

Grenzen der Grundwerte

Die Bündnisgrünen bieten ein Wertprofil, das deutlich in den gesamtgesellschaftlichen Grundkonsens hineinreicht, sich aber auch um Unverwechselbarkeit bemüht. Zu den Besonderheiten gehören die Hervorhebung von Ökologie, der „gesellschaftlichen Gleichstellung von Frauen und Männern“ sowie von Gewaltfreiheit. Aus der seit der französischen Revolution klassischen Wertetrias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit fehlt ein eigens privilegierter Grundwert Fraternität/Solidarität, der allerdings bei der Interpretation der von den Bündnisgrünen ausgewählten fünf Grundwerte stark berücksichtigt wird.

Es ist sehr fraglich, ob heute eine Profilierung allein über Werte möglich ist. Es gibt ein Gedränge nicht nur in der weit gefaßten Mitte, sondern auch bei den zentralen Grundwerten. Die spezifische Einfärbung bei der Interpretation, die jede ideologische Familie vornimmt, kann das Näherrücken in der Auswahl der wichtigsten Grundwerte nicht verdecken.

In welcher Gesellschaft leben wir?

Stellte man Grünen heute diese Frage, man würde immer noch die unterschiedlichsten Antworten erhalten. Gegenüber den Jahren, als Alternativen wie Kapitalismus, Industriesystem, westliche Zivilisation oder Patriarchat gegeneinander standen, hat sich jedoch der Horizont der Antworten geklärt. Viele Grüne würden einer Etikettierung als modernisierungskritische Modernisierer zustimmen.

Das Modernisierungskritische auf der Grundlage moderner Gesellschaft ist das Spezifikum der Grünen. Nicht Anti-Modernismus, aus der Zeit, als einige Grüne von Dreitausend-Seelen-Kommunen träumten. Kein Ausstieg aus der Industriegesellschaft. Aber auch keine fortschritts-, wissenschafts- und technikgläubige Modernisierung im Selbstlauf einer für richtig befundenen Moderne.

Eine Systematisierung des grün- spezifischen Modernisierungskritischen, das über den Zentralpunkt Ökologie hinausgeht, könnte Teil einer Grundsatzdebatte sein. Antikapitalismus beispielsweise wäre dabei nicht als Prinzip, schon gar nicht als Grundprinzip zu rechtfertigen, sondern als Teil eines modernisierungskritischen Ansatzes, bezogen auf kapitalistisch konkret zurechenbare negative Effekte, wie zum Beispiel die Zerstörung der Nordsee oder das Betreiben der Atomindustrie.

Die Staatsfrage

Jeder sucht beim Staat, was ihm paßt. Darin unterscheiden sich die Bündnisgrünen nicht von den anderen Parteien. Die CDU will den Sicherheits-, die SPD den Wohlfahrts-, die Grünen wollen den Ökostaat.

Die Grünen fordern in der Umweltpolitik einen starken Staat, über das Ausmaß seiner Intervention in wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen sind sie sich uneins, im privaten, lebensweltlichen Bereich wollen sie so wenig Staat wie möglich.

Der Staat muß auf den Prüfstand. Zwei Modelle sind gescheitert. Das sozialdemokratische Modell eines umfassenden, vorsorgenden Wohlfahrtsstaates ebenso wie das neoliberale Modell eines minimalistischen Staates, der seine Verantwortung zugunsten des Marktes abtritt. Die Grünen können ihren Weg nur gegen die Staatsgesellschaft wie gegen die Marktgesellschaft finden, gegen Etatisierung wie Kommerzialisierung. Das grüne Ideal könnte in die Richtung einer Zivilgesellschaft mit politischer Verantwortung gehen. Die Grundidee des Staates als des allgemein zu Regelnden sollte bei aller Staatskritik nicht mit über Bord gehen. Der Staat behält eine genuine Verantwortung für notwendige Regulierung und Verteilung, aber er muß nicht alles selber machen.

Staat wird immer mehr Gewährleistungs- und Regulationsstaat mit Gesellschaftsvertrauen. Er selbst produziert keine materiellen Güter und stellt auch immer weniger Dienstleistungen bereit. Ein Rückzug aus bürokratischer Aufgabenwahrnehmung bedeutet nicht den Rückzug aus staatlicher Verantwortung.

Welche Ziele mit welcher Eingriffstiefe zum staatlichen Verantwortungsbereich gehören sollen, kann nur aus Diskurs und Entscheidung in einem offenen demokratischen Prozeß hervorgehen. Zu diesen veränderten Verantwortlichkeiten des Staates könnten die Grünen als Anwälte der Zivilgesellschaft einen besonderen Beitrag leisten.

Den Sozialstaat umbauen

Die Grünen sind heute mehr denn je Sozialstaatsbewahrer. Die Defensive und Fixierung auf die neoliberalen Gegner dominiert. Eine Leitidee für die reformerische Bewahrung und Modernisierung des Sozialstaats fehlt noch. Zwei Möglichkeiten seien hier kurz angerissen:

Erstens: Die Grünen haben die enge Bindung des deutschen Sozialversicherungsstaates an abhängige Erwerbstätigkeit und das Familienmodell Einverdienerehe zu Recht nie akzeptiert. Individualisierung – eigenständige rechtliche Behandlung unabhängig vom Familienstand – und Universalisierung – Einbeziehung aller Erwerbstätigen und auch der Nichterwerbstätigen – müssen Leitformeln einer Fortentwicklung der Sozialversicherungen sein. Perspektive ist deren langsame Umwandlung in eine BürgerInnenversicherung. Diese schafft eine allgemeine beitragsfinanzierte Absicherung sozialer Risiken unabhängig vom Erwerbs- und Familienstatus, aber auf weit höherem Niveau als dies Grundsicherungsmodelle leisten.

Zweitens: Wettbewerb wird in einer zukünftigen grünen Sozialstaatskonzeption eine größere Rolle als bisher spielen. Wettbewerb und Markt sind aber nicht dasselbe. Das politische Kunststück könnte darin bestehen, Wettbewerblichkeit und die grüne Zentralidee bürgerschaftlich-demokratischer Partizipation miteinander zu verbinden. Gegen die Herrschaft finanzieller Effizienzkalküle wäre ein Vorrang der bürgerorientierten Effektivität zu institutionalisieren: bürgerschaftlicher Wettbewerb gegen Marktwettbewerb. Solch ein demokratisches Wettbewerbsmodell müßte weitere Diskussionen wert sein.

Ein Sozialstaat, der vorrangig „Gewährleistungsstaat“ ist, beschränkt sich auf die Vorgabe von Versorgungsniveaus, Umverteilungsvolumina und Qualitätszielen. Die Erbringung von sozialen Dienstleistungen überläßt er gesellschaftlichen Assoziationen und Unternehmen.

Statt zum Dienstleistungsunternehmen wird er vorrangig Verteilungsstaat. Je mehr die zivilgesellschaftliche Strategie der Aufgabenverlagerung auf bürgerschaftliche Initiativen und Unternehmen gelingt, desto sichtbarer werden die Verteilungsaufgaben des Staates. Und desto größer werden die Anforderungen an die politische Formulierung eines halbwegs konsistenten Modells sozialer Gerechtigkeit.

Demokratie fortentwickeln

Bei Demokratie wird zunehmend klarer, was sie nicht ist. Unklar bleibt, was sie sein könnte. Alle einfachen, nur einem Prinzip folgenden Demokratiemodelle haben mit der Realität nichts gemein. Deshalb blieb der grüne Versuch, Repräsentativ- durch Basisdemokratie zu ersetzen, hoffnungslos hinter der gesellschaftlichen Komplexität zurück. Tatsächlich haben die Grünen gezeigt, daß beide einfachen Modelle aktuellen Anforderungen nicht mehr genügen.

Die Gesellschaft ist gleichzeitig durchzogen von Tendenzen der Entdemokratisierung wie der Demokratisierung. Zur Abwehr entdemokratisierender Regression bleibt immer genug zu tun, das Problem der Demokratisierungskräfte besteht aber darin, daß ihnen heute ein Projekt fehlt, in dem sich Phantasie und Energie bündeln ließen. Demokratische Basisinnovationen sind nicht in Sicht. Die demokratischen Kerninstitutionen wie Wahl, Parlament, Opposition – denen sich bruchlos Elemente der Referendumsdemokratie hinzufügen ließen – sind ohne strukturelle Alternativen, aber sie definieren Demokratie nicht mehr, gehören lediglich zu deren Grundausstattung. Interessanter sind die Veränderungen in der Umwelt der Institutionen, die Selbstaktivierung und der Kompetenzzuwachs in der Gesellschaft, sowie das – im Vergleich zu früher – unkonventionelle Verhalten in den alten Institutionen.

Der Ein- und auch noch der Zweideutigkeitsverlust von Demokratie, das Fehlen eines institutionell profilierbaren Demokratieprojekts, das politisch Unsichtbare lebensweltlicher Demokratisierungsprozesse erschweren einfache Orientierungen, zugleich können sie die Aufmerksamkeit auf Veränderungen an den Grenzen traditioneller Demokratie lenken. Realen Trends eine Richtung geben, vielleicht liegt darin längerfristig eine Chance, die heutige „Demokratie ohne Namen“ auf einen Begriff zu bringen oder – wichtiger noch – der Demokratisierung wieder ein benennbares Projekt zu verschaffen. Drei solche Realtrends seien hervorgehoben:

Informalisierung. Auf die institutionelle Demokratisierungsschranke und auf das Scheitern einer Basisdemokratie, die auf formelle Kontrolle gerichtet war, können auch Demokratisierungsakteure nur mit Informalisierung antworten. Der Streit mit Status- quo-Demokraten geht um die Richtung der Informalisierung. Öffnung vs. Schließung, Diskurs vs. Verlautbarung/Agitation, Verhandlung nur mit neokorporativen oder auch mit ressourcenschwachen Akteuren, Responsivität vs. Nichtberücksichtigung klientelüberschreitender Interessen – in solchen Alternativen drücken sich die interessanten Fragen nach der Erschöpfung der formalen Demokratisierung aus.

Grenzverschiebung. Das nationalstaatliche Prinzip von Demokratie bzw. Demokratisierung hat seine Grenzen verschoben, insbesondere „nach oben“ (Globalisierung) und „nach unten“ (Individualisierung). Globalisierung unterminiert Demokratie, wenn sich der Schwund politischer Verantwortung auf der nationalen Ebene nicht durch internationale Regime einholen läßt. Transnationale Demokratisierung kann aus strukturellen Gründen nicht das nationalstaatliche Niveau erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine Verstärkung von Demokratie im traditionellen nationalstaatlchen Rahmen zur Kompensation transnationaler Demokratiedefizite zu begründen.

Verflüssigung. Die Verflüssigung starrer Institutionen kann auf institutionelle Anbauten (z. B. Enquetekommission für Technikfolgenbewertung) oder verfahrensmäßige Erneuerungen (z. B. Moratorium, „Planungszelle“, Mediationsverfahren) setzen, am wichtisten ist aber das veränderte Verhalten aufgrund gestiegener Information und konventionellen wie unkonventionellen Handlungsvermögens. „Diskursive“ oder „dialogische Demokratie“ mögen zu sehr einen argumentativen Selbstlauf nahelegen. Es geht dabei auch immer um interventionistische Demokratie, solche Intervention gesellschaftlicher Akteure bezogen auf politische Entscheidungen nehmen die Form initiierter, auch „aufgezwungener“ Debatten, Kampagnen, Projekte an.

Für zivile Außenpolitik

Unter allen Politikfragen könnte die der Außenpolitik das Schicksal der Bündnisgrünen am meisten bestimmen. Die Grünen müssen prinzipiell klären, ob und unter welchen Bedingungen sie in Grenzsituationen, als letzte Konsequenz des Scheiterns intensiver, nicht gewaltsamer Lösungsversuche militärische Gewaltanwendung mittragen.

Die Grünen haben einen innenpolitischen Lernprozeß zum Gewaltmonopol des Staates hinter sich. Sie wissen heute, daß die Monopolisierung der Gewaltmittel beim Staat eine Befriedungschance enthält und daß alles auf die Zivilisierung dieses Gewaltmonopols ankommt. Diesen Lernprozeß müßten die Grünen analog auf das internationale Feld übertragen. Pazifizierung hieße die Alternative zu Pazifismus. Es ist gewiß richtig, daß internationale Gewaltmonopole noch unzureichend entwickelt sind, aber die Selbsteinbindung in internationale Zusammenschlüsse und der Abschied von nationaler Machtpolitik verweisen auf eine Perspektive, in der die Kollektivierung militärischer Gewaltmittel die Vorstufe zu deren internationaler Zivilisierung, d. h. Nicht-Anwendung, und letztlich zu deren Abschaffung ist.