: Paradies in der Krise
Das für seine Naturschönheiten gerühmte Madagaskar versinkt in Armut und politischer Resignation ■ Von Andreas Jungbauer
Die schmalen Ritzen sind kaum zu sehen. Erst als gewaltige Schläge gegen die Schiffswand donnern, machen sie sich bemerkbar: Unaufhörlich, Welle um Welle, drückt das tobende Meer in den Schiffsbauch der „Rapiko“. Nur wenige Minuten – und schon staut sich eine riesige Wasserlache auf dem öligen Boden. Nervöse Blicke bei der Besatzung. Einer beginnt zu schöpfen, ein anderer kippt die vollen Eimer über Bord. Bei alledem versuchen sie ruhig zu bleiben, denn sie sind nicht allein: Mehr als 200 Passagiere bevölkern den Menschenfrachter, auf dem eigentlich nur 75 Platz haben. Ein Ausbruch von Panik wäre das Ende. Die Fahrgäste kauern gebückt in den Ecken wie Sardinen in einer Dose – zum Preis von einem Viertel Monatslohn lassen sie sich durch den Indischen Ozean schiffen. Nur der Hunger sorgt für Bewegung: Alte Frauen löffeln Reis aus Plastiknäpfen, die jüngeren stillen ihre Kinder.
Eine ganze Nacht lang dröhnt der Dieselmotor, schaukelt das desolate Schiff über das Meer. Sämtliche Sicherheitsmaßnahmen mißachtend transportiert die „Rapiko“ ihre Über-Ladung von Toamasina an Madagaskars Ostküste hinüber auf die 150 Kilometer nordöstlich gelegene kleine Insel Sainte Marie: Menschen, Nahrungsmittel und diverses Frachtgut landen mit Sonnenaufgang im Hafen von Ambodifotatra.
Eine Alternative besitzen die Passagiere nicht. Die „Rapiko“ ist die einzige noch funktionierende Fährverbindung auf dieser Strecke, und dies nur einmal pro Woche. Madegassen mit Schuhen und Anzug verzichten auf das Suizidkommando. An Bord der „Air Madagascar“ lassen sie in 20 Minuten das Meer bequem unter sich zurück.
Die Hälfte der Straßen sind verschwunden
„Wir haben die Regierung gebeten, nicht nur in den Flugverkehr, sondern vor allem in die Verbesserung des Straßennetzes zu investieren“ – der gut gemeinte Ratschlag kommt aus der deutschen Botschaft in der Hauptstadt Antananarivo, kurz „Tana“ genannt. Rund die Hälfte der Straßen auf Madagaskar sind nach einem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung in den letzten zehn Jahren mangels Unterhalt verschwunden. Ohne ihren Wiederaufbau ist an einen Wirtschaftsaufschwung nicht zu denken. Gelder für diese Baumaßnahmen sollten eigentlich von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) fließen, aber die instabile politische Lage hat auch die Verhandlungen mit Bretton Woods auf Eis gelegt. Im Februar hatte Premierminister Francisque Ravony einen „letter of intent“ unterzeichnet. Das vergiftete Verhältnis zwischen ihm und Staatspräsident Albert Zafy aber verzögerte die Finalisierung der Vereinbarung mit Weltbank und IWF um Monate. „Madagaskar verliert Zeit, die es eigentlich nicht hat“, kritisiert ein deutscher Diplomat. Wirtschaftsdaten untermauern den Niedergang der Insel vor der Südostküste Afrikas: Die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, der monatliche Mindestlohn von umgerechnet knapp 40 Mark hält mit der Inflation nicht mit. Das Bruttosozialprodukt ist in zehn Jahren um 40 Prozent gesunken.
Schon werden im Land Stimmen laut, die nach einer Rückkehr des langjährigen Staatspräsidenten Didier Ratsiraka rufen. 1975 hatte der General ein sozialistisches, Moskau-orientiertes Regime – die sogenannte Zweite Republik – installiert, mußte sich aber Anfang der 90er Jahre dem Druck der Opposition beugen, Reformen einleiten und sich im Februar 1993 seiner Abwahl durch das Volk fügen. Jetzt sagen viele Madegassen: „Seit der Zweiten Republik ist hier alles schlechter geworden.“
Die junge Demokratie hat viel Kredit verspielt. „Natürlich hatte die Zweite Republik ihre Fehler, aber schlechter ging es den Leuten unter Ratsiraka nicht“, erklärt ein Geschäftsmann in einem Restaurant der Hauptstadt – und blickt sich in verstohlener Vorsicht nach möglichen hellhörigen Nachbarn um, die seine Kritik mißbilligen könnten. Er glaubt, daß Politiker und Wahlvolk nicht mit ihrer demokratischen Freiheit umgehen können: „Die haben da etwas verwechselt. Was wir jetzt haben, ist Anarchie.“ Tatsächlich steuerten in den vergangenen Monaten unberechenbare, weil jederzeit korrumpierte Mehrheiten im Parlament das Land auf einen politischen und ökonomischen Zickzackkurs.
Die von der Bevölkerung per Plebiszit angenommene Verfassung von 1992 hatte bewußt eine breite Machtverteilung zwischen Parlament, Premierminister und Staatspräsident geschaffen. Der 1993 vom Volk gewählte Albert Zafy findet sich aber mit seinen beschränkten Machtbefugnissen nicht ab. „Solche Leute würden in anderen Ländern geköpft oder aufgehängt“, soll der Präsident im Fernsehen über seinen Premierminister Ravony geäußert haben. Ihn und das Parlament machte der Medizinprofessor Zafy im Juli mit groben Verbalinjurien für die Misere des Landes verantwortlich. Kritische Beobachter sehen die Quelle seines Zorns in Ravonys Weigerung, zehn Millionen US-Dollar aus dem Staatshaushalt für Küstenwachboote und die Verstärkung des präsidialen Sicherheitsdienstes lockerzumachen.
„Wozu haben wir denn ein Parlament?“
Zafys Versuch, den Premierminister per Mißtrauensantrag abzusetzen, fiel im Parlament durch. So berief der Präsident am 17. September ein Referendum ein und fragte das Volk: „Akzeptieren Sie, daß der Präsident der Republik seine Verantwortung wahrnimmt und den Premierminister direkt ernennt?“ Rund zwei Drittel der etwa 13 Millionen Madegassen haben die Suggestivfrage bejaht und damit die Stellung des Präsidenten zementiert.
Der Nutzen der ganzen Angelegenheit ist jedoch für viele nicht klar. „Wozu haben wir denn ein Parlament? Außerdem kostet das Referendum nur unnötig Geld“, erbost sich Gaston Rakoto, ein Industrieller aus der Hauptstadt. So wie er denken viele in der Stadt, das wußte auch der Präsident. Mit einer rastlosen Wahlkampagne versuchte er deshalb vor allem, Punkte bei der ländlichen Bevölkerung zu sammeln.
Die hat sich aber weitgehend resigniert von der Politik abgewandt, weil ihre Lebensverhältnisse sich immer weiter verschlechtern. Die landwirtschaftliche Anbaufläche hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert, die Erträge sind auf ein Siebtel geschrumpft. Reisimporte aus Pakistan helfen mittlerweile Hungersnöte in Madagaskar verhindern. Der Überlebenskampf der Bevölkerung zieht auch die vielgerühmte paradiesische Natur der „grünen Insel“ in Mitleidenschaft. 200.000 Hektar Wald werden nach einem Unicef-Bericht Jahr für Jahr auf Madagaskar abgeholzt, 10.000 Tonnen fruchtbarer Boden abgeschwemmt. „Vom Wald bleiben nur Fetzen“, heißt es in der Studie, und das seien noch zehn Prozent der Gesamtfläche des Landes.
Mit der Einrichtung und der Pflege von Nationalparks versucht der Staat, der Waldrodung zumindest an ausgewählten Flecken Einhalt zu gebieten. Im Reservat Isalo verwendet die verantwortliche Behörde Angap die Hälfte der Eintrittsgebühren für sogenannte Mikroprojekte wie Brunnenbohrungen, Landwirtschaftsprojekte oder Wiederaufforstungen. Letztere haben eher den Charakter von Reanimierungsmaßnahmen.
Ferdinand, der Besucher durch den Isalo-Nationalpartk führt, hat für die Politik nur ein Lächeln übrig: „Das Referendum? Interessiert mich nicht. Die Politiker sind doch alle gleich. Reden nur und ändern nichts“, sagt der 30jährige, während ein Fahrzeug mit Megaphon durch die kleine Ortschaft Ranohira rast. „Tragt euch in die Wählerlisten ein!“ dröhnt das Megaphon von dem Autodach, aber außer Staub regt sich auf der Straße nichts.
„Es hat wenig geregnet. Der Reis kostet fast doppelt soviel wie im letzten Jahr“, klagt Ferdinand und leert einen Becher Reis in eine kleine Plastiktüte. Wenn Ferdinand nicht gerade Besucher durch den Nationalpark führt, verdient er sein Brot auf den Reisfeldern – eine Knochenarbeit, vor allem ohne den Einsatz von Rindern. Wiederholte, groß angelegte Diebstähle der örtlichen Zebu-Rinder haben Spuren hinterlassen: „Zuerst ein Gewehr, dann das Zebu!“ lautet Ferdinands Devise mit Blick auf eine sich zusehends verschärfende Sicherheitslage.
Das bäuerliche Leben beenden und sein Glück in der Stadt versuchen, ohne den Zwang, aber auch ohne den Schutz der Großfamilie – daran hat Ferdinand auch schon gedacht. Doch er weiß um das Schicksal vieler, die arbeitslos und ohne Dach über dem Kopf auf der Straße gelandet sind und in die Kriminalität abrutschen.
„Du mußt hier mit einem ständigen Angstgefühl fertigwerden“, stöhnt in der Hauptstadt Susanne Thaller, UNO-Mitarbeiterin aus München: Einem Kollegen sei fast der Arm abgeschnitten worden bei dem Versuch, ihm den Aktenkoffer zu klauen. Erst vor kurzem wurden aus der Zentrale der amerikanischen Hilfsorganisation US- Aid Fahrzeuge und Computer geraubt. Nicht nur Ausländer müssen um ihren Besitz fürchten: „Ich kann mein Auto nirgends mehr unbewacht stehen lassen“, sagt der Industrielle Gaston Rakoto. Die Polizeikontrollen an den Ausfallstraßen häufen sich.
Wie ein Magnet zieht der „Zoma“, der riesige Freitagsmarkt, Woche für Woche Tausende Madegassen in die Hauptstadt. Viele trudeln mit Wagen, Körben und Säcken schon am Donnerstagnachmittag ein, um einen verkaufsträchtigen Platz auf der Avenue de l'Independence zu ergattern. Die „Straße der Unabhängigkeit“ verwandelt sich für eineinhalb Tage in ein chaotisches Warenlager mit Hunderten von weißen Sonnenschirmen. Gehandelt und gefeilscht wird hier um alles: von reparierten Mausefallen über alte Dosen bis hin zu Obst, Uhren und Textilien. Das überbordende Angebot vertreibt für einen Moment jeden Gedanken an Elend und Hunger. Doch außer bei Reis und Saatgut sind es nicht die Armen, die hier einkaufen. Wie in den meisten Entwicklungsländern hat sich auch auf Madagaskar eine reiche Oberschicht von der Masse abgekoppelt und sich auf einer Wohlstandsinsel eingenistet. Auch die schönste Demokratie kann daran nichts ändern.
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