: Die Angst vor dem Beispiel Jericho
Die Palästinenser sind froh, wenn die israelischen Soldaten aus den Städten der Westbank abziehen. Aber Grund zur Freude über das Autonomie-Abkommen sehen sie dennoch nicht ■ Aus Ramallah Khalil Abied
Mit einer Mischung aus zurückhaltender Zustimmung, Besorgnis und Enttäuschung reagieren die Palästinenser in der Westbank auf das Oslo-Zwei-Abkommen, das eine Ausweitung der Autonomie vorsieht und gestern in Washington unterzeichnet werden sollte. „Natürlich wird jeder Palästinenser zufrieden sein, wenn sich die israelischen Soldaten aus den palästinensischen Städten zurückziehen,“ sagt Abu Ahmed, ein Gemüsehändler in Ramallah, das etwa 20 Kilomter von Jerusalem entfernt ist. „Aber es gibt noch zuviele Fragen, die noch nicht gelöst sind.“
Vor allem der Sonderfall Hebron, wo 400 Siedler im Stadtzentrum inmitten von 120.000 Palästinensern leben, stimmt viele Gesprächspartner bitter. „Das Abkommen hat unsere Forderungen und Wünsche nicht erfüllt,“ sagt der Apotheker Ali Kawasmi aus Hebron. Er war unabhängiges Mitglied in einer Delegation von Bürgern der Stadt, die zu den israelisch-palästinensischen Verhandlungen nach Taba eingeladen worden waren. „Die Siedler müssen umgesetzt werden. Das Leben in der Stadt wird sich niemals normalisieren, solange sie unter uns leben.“ Gemäß dem Abkommen werden die Siedler bleiben und von israelischen Soldaten geschützt, die auch künftig knapp 15 Prozent des Stadtgebietes kontrollieren werden.
Grund zur Unzufriedenheit liefert auch der Konflikt um die Freilassung palästinensischer Gefangener. Dem Abkommen zufolge soll eine erste Gruppe nach der Unterzeichung des Vertragswerks auf freien Fuß gesetzt werden, eine zweite vor den Wahlen zu einem palästinensischen Autonomierat, deren Termin noch nicht feststeht. Über die Freilassung der letzten Gruppe – dabei handelt es sich vorwiegend um Palästinenser, die Anschläge auf Israelis durchgeführt haben – soll erst während der Verhandlungen über eine endgültige Lösung im Sommer nächsten Jahres gesprochen werden. „Die Israelis versuchen, die Gefangenen als Geiseln zu benutzen,“ sagt ein PLO-Aktivist, der anonym bleiben will. „Sie wollen sie als Druckmittel in den Verhandlungen einsetzen, um uns zu Konzessionen zu zwingen.“
Ali Jarbawi, Professor an der Bir Zeit Universität bei Ramallah, kann dem Abkommen auch Positives abgewinnen. „Es wird schön sein, in einer freien Stadt zu leben und unserer eigenen Verwaltung zu unterstehen, mit unseren eigenen Polizisten“, sagt er, fügt aber hinzu: „Aber wenn das bedeutet, daß wir in Ramallah wie in einem südafrikanischen Bantustan leben, dann hieße das, daß wir in einem großen Gefängnis leben, zu dem die Israelis den Schlüssel haben. Die Erfahrung mit Jericho macht mir Angst.“
Selten diskutiert man dieser Tage mit einem Palästinenser, ohne daß Begriffe wie „Batustan“ oder „Jerichos Schicksal“ fallen. Hintergrund ist die im Abkommen vorgesehene Teilung der Westbank in die Zonen A, B und C, wonach die Städte von den Palästinensern verwaltet werden, die ländlichen Gebiete mit rund 450 Dörfern von Palästinensern und Israelis gemeinsam, während die Gebiete, in denen Siedlungen und Militäreinrichtungen liegen, weiterhin unter der alleinigen Kontrolle Israels bleiben. Angesichts dieser Lage befürchten nun viele, daß das Beispiel Jericho Schule machen wird.
Das Städtchen im Jordantal war der erste Ort in der Westbank, der nach dem Oslo-Eins-Abkommen autonom wurde. Doch wenn radikale Islamisten von Hamas oder Jihad einen Anschlag verübten oder es ein „Mißverständnis“ zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Behörde gab, sperrten die israelischen Soldaten die Straßen in die Stadt, und untersagten den Einwohnern, das Gebiet zu verlassen.
Es ist nicht damit zu rechnen, daß Hamas und Jihad, die sich gegen das Oslo-Zwei-Abkommen ausgesprochen haben, nun ihre Anschläge einstellen werden. Außerdem wollen militante Siedler den Vertrag zu Fall bringen. „Wenn die israelische Regierung dann jedes Mal im Falle von Spannungen die autonomen Gebiete abriegelt, dann wird die Westbank in Bantustans verwandelt“, befürchtet Jarbawi. „Nicht nur das: Vielleicht werde ich ein israelisches ,Visum‘ brauchen, wenn ich von Nablus nach Jenin fahren will“, fügt er spöttisch hinzu. „Auf jeden Fall brauchen die Palästinenser jetzt eine neue Landkarte, damit sie wissen, ob sie sich in Zone A, B oder C befinden, wenn sie unterwegs sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen