: Eine Mauer aus Angst und Ekel
Den verachteten Straßenkindern Brasiliens bleibt nur Prostitution und Drogenhandel. Immer mehr werden brutal ermordet ■ Aus Rio Astrid Prange
Ich will dieses Leben als Kaugummiverkäuferin nicht mehr. Die Leute, die bei mir kaufen, verfluchen mich und dreschen auf mich ein. Ich will dieses Leben nicht mehr, weil die Männer kein Kaugummi kaufen, sondern ficken wollen“, hat eine junge Frau zu Irene Rizzini gesagt, als die Professorin für Pädagogik sie nach ihrem Leben auf der Straße fragte.
Rizzini arbeitet an der Universität Santa Ursula von Rio. Ihr Buch über die Straßenkinder Brasiliens zeugt von ihrem Zorn über die Lage der Mädchen, die nur im Schatten eines brutalen Beschützers überleben – und die zu Hause ihr Leben riskieren, wenn sie Mißhandlungen vom Stiefvater oder Erzeuger nicht schweigend über sich ergehen lassen. „Leben“, so hat Irene Rizzini aus den Gesprächen mit vierzig Mädchen und Müttern auf der Straße herausgehört, ist für sie der Inbegriff alles Negativen.
Das Männerbild der Mädchen pendelt zwischen sexuellem Gewalttäter und brutalem Beschützer: „Nur ein bißchen am Busen lutschen. Nein? Dann Mund zustopfen, vergewaltigen und in den Fluß schmeißen. Die Leute auf der Straße wissen es und leugnen es!“
Als „Schutz“ vor den Vergewaltigern schläft die eine oder andere mit einem Polizisten: „Er ist schon dreißig, er ist wirklich anders“, lautet die Rechtfertigung.
Straßenkinder wissen um die Mischung aus Angst und Ekel, die sie bei der Bevölkerung auslösen. „Die Leute, die uns auf der Straße sehen, denken, daß wir stehlen, daß wir Nutten sind. Madame versteckt ihre Handtasche, wenn sie an uns vorbeigeht und hält ihre Uhr fest.“
Und doch: „Die Existenz von Straßenkindern wird in Brasilien nicht mehr mit der früher üblichen Gleichgültigkeit ignoriert“, meint Maria Ieda da Silva, Koordinatorin der brasilianischen Bewegung für Straßenkinder (MNMMR). Seit zehn Jahren versucht sie, die Mauer aus Angst und Ablehnung zu durchbrechen, die Brasiliens Bevölkerung um die Barfüßigen errichtet.
So erschien beim Vierten Internationalen Kongreß für Straßenkinder, der am vergangenen Mittwoch in der Hauptstadt Brasilia begann, auch Brasiliens Präsidentengattin Ruth Cardoso und versprach, sich für die vernachlässigten Jugendlichen einzusetzen.
Das hören viele TeilnehmerInnen allerdings mit Skepsis. Sie erinnern sich an den letzten Straßenkinderkongreß vor drei Jahren. Damals „hat der Präsident gesagt: Kinder sind groß, er hat große Pläne für sie ... Mein Leben hat sich einen Scheißdreck verändert, seitdem er da sitzt“, meint ein Mädchen. „Er hat ein Flugzeug gekauft und ist weggeflogen, und der Polizist hat mir meinen Arm gebrochen.“
Gleichzeitig vertrauen die Mädchen den Mitarbeiterinnen des MNMMR aus Rio an, daß sie sich „nehmen, was ihnen zusteht“. „Manchmal, wenn ich Hunger habe, grabsche ich direkt ins Essen von irgendeinem Gringo. Wenn ich ihm nicht die Kehle abschnüre, sterbe ich vor Hunger.“
Der Heißhunger kann tödlich sein. Obwohl die Gerichte ab und zu Profikiller verurteilen, machen Todesschwadronen weiterhin Jagd auf die Parias der brasilianischen Gesellschaft. Dazu gehören nicht nur die rund 800 Jugendlichen, die nach einer Studie des brasilianischen „Instituts für wirtschaftliche und soziale Studien“ (Ibase) in Rio ständig auf der Straße leben. Für diese selbsternannten „Hüter des Gesetzes“ sind alle elf Millionen brasilianischen Kinder, die in extremer Armut aufwachsen, potentielle Verbrecher, die „zu nichts nütze sind“.
„Das Töten geht weiter“, konstatiert Ivanir dos Santos, Vorsitzender der schwarzen Bürgerrechtsbewegung „Ceap“ aus Rio. „Der einzige Unterschied“, so Santos, „besteht darin, daß Massaker im großen Stil nicht mehr so häufig vorkommen.“ Nach einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung der Kriminalpolizei von Rio sind die Morde an Minderjährigen in den ersten sieben Monaten dieses Jahres gegenüber demselben Zeitraum 1994 um 18 Prozent auf 375 Opfer gestiegen. Vor zehn Jahren, im Jahr 1985, wurden im Bundesland Rio 185 Minderjährige ermordet.
Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf Rio: In ganz Brasilien werden immer mehr Kinder und Jugendliche umgebracht. Auszug aus der Statistik der brasilianischen Kripo: „1988: 1.138 gewalttätige Morde an fünf- bis 17jährigen; 1989 sind es 1.625; 1990 schon 1.848.“ Zwischen den trockenen Zahlen liest Rios Jugendrichter Sirio Darlan einen neuen Trend heraus. „Die Todesschwadronen sind nicht mehr für die Mehrheit der Morde verantwortlich“, meint er. Die Exekution von Minderjährigen spiele sich mittlerweile im Drogenmilieu ab.
Die Koordinatorin der brasilianischen Straßenkinderbewegung kann dies nur bestätigen. „Wir machen uns nichts vor. Für Kinder aus der Favela ist die Versuchung, 700 Mark und mehr im Monat zu verdienen, beinahe unwiderstehlich“, erklärt Maria Ieada da Silva. „Solange die Regierung nicht mehr für die Kinder aus den Armenvierteln tut, sind Drogenhandel und Prostitution die einzigen wirtschaftlichen Alternativen“, warnt Jugendrichter Darlan.
Am 12. Oktober, in Brasilien Tag des Kindes, beginnt eine großangelegte, offizielle Kampagne zur Bekämpfung der Kinderprostitution. „So kann es nicht weitergehen“, hat Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso zum Auftakt des Straßenkinderkongresses im Fernsehen gesagt. „Die Kinderprostitution ist ein barbarisches Verbrechen, das ausgerottet werden muß.“ Noch ein unerfülltes Versprechen?
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