Warum die Tropen so traurig sind

Die Grausamkeit erkunden: Ein Roman von V. S. Naipaul, dem Melancholiker der Dritten Welt  ■ Von Willi Winkler

Mit siebzehn arbeitete Vidiadhar Surajprasad Naipaul kurze Zeit in der Registratur von Port of Spain auf Trinidad. Schreiber warteten draußen vor dem Roten Haus auf Kundschaft, Kaufleute, Grundbesitzer, Wirte, die nach alten Grundbucheintragungen suchten, weil sie Rechtstitel erwerben oder veräußern wollten, aber nicht lesen und schreiben konnten. Die Schreiber wälzten die Pandekten und suchten und fanden, denn in diesen unförmigen Bänden war die Geschichte Trinidads seit den Tagen verzeichnet, da Kolumbus seinen eisernen Fuß an Land gesetzt hatte.

Naipaul, ein Auserwählter bereits, weil er bald ein Stipendium antreten sollte, das ihn 1950 von der Kolonialinsel weg nach England und in eine andere Welt befördern sollte, Naipaul kopierte einige Monate lang diese Akten für die Schreiber, schrieb die Eintragungen säuberlich ab, ließ die Daten von seinem Vorgesetzten beglaubigen und folgte sie den Schreibern aus. Diese Tätigkeit war natürlich nicht das eigentliche Leben, das sollte erst in England beginnen, sie war aber nah genug am eigentlichen Leben, um ernst genommen zu werden für die begrenzte Zeit.

Schreiben sollte Naipaul, Schriftsteller werden und den Berufswunsch seines Vaters erfüllen, der Journalist geblieben war. „Doch ich hatte nichts, über das ich hätte schreiben können: Ich bereitete mich nur darauf vor, ein Schriftsteller zu sein.“ Naipauls Vorgesetzter in der Registratur war ein riesenhafter Schwarzer namens Blair, der auf Manieren hielt, stets höflich und korrekt war, der, wenn Zahltag war, nicht mit den anderen trank, sondern auf seinem Fahrrad nach Hause fuhr und studierte. „Blair lernte, ich dagegen schrieb in meiner Freizeit.“

Blair hatte Kurse im Fernstudium belegt und wollte aufsteigen in der Welt. Einige Jahre zuvor wäre es noch unmöglich gewesen, daß ein Schwarzer auf Trinidad eine besondere Stelle in der Verwaltung einnahm, aber jetzt, Ende der vierziger Jahre, eröffnete sich diese Möglichkeit, und Blair nahm sie wahr. Er hätte Karriere machen können. Naipauls Karriere läßt sich langsam genug an. Der 17jährige Naipaul übt sich im Schreiben. Kopieren kam der eigentlichen Sache allenfalls technisch nahe, es mußte etwas anderes gefunden werden. Naipaul schrieb Skizzen, tippte sie im Büro ab und begann dann mit Korrekturen des Typoskripts, weil das wie das wirkliche, das berufsmäßige Schreiben aussah. Einmal besuchte er einen Schönheitswettbewerb und schrieb eine launige Geschichte darüber. Voller Stolz gab er den Text einer Kollegin im Büro zu lesen, einer Sekretärin, die ihn bewundern sollte, aber die lachte ihn aus: Als Inder habe er nichts begriffen von den Schwarzen.

Jahre brauchte er, um diese Niederlage zu überwinden, und spät erst sah er den Wert dieser Fundamentalkritik ein. „Ich hatte das Schreiben von Grund auf neu lernen müssen, fast so, wie man das Gehen und den Umgang mit dem eigenen Körper nach einer schweren Operation aufs neue erlernen muß.“ 1956 hat er endlich sein erstes Buch fertig, „Miguel Street“, das die Lebensfreude Trinidads feiert. Bei seiner ersten Rückkehr nach Trinidad wird Naipaul Zeuge einer religiösen Erweckung, bei der das „Sakrament der Befreiung“ ausgeteilt wird. „Es war, als hätte ich einen Kinosaal betreten, lange nachdem der Film angefangen hatte, aber ich spürte, daß es keine Rolle spielte, was gesagt wurde. Wichtig war die Veranstaltung selbst: die Zusammenkunft, die Dramatik, die Stimmung; viele der Schwarzen auf dem Platz entdeckten und verherrlichten ein gemeinsames Gefühl.“ Sein noch gar nicht veröffentlichtes Buch schildert nur mehr eine pittoreske Vergangenheit. Wieder wird er das Schreiben ganz neu lernen müssen.

Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt werden sein Thema, die Operettenkaiser und die pseudomarxistischen Revolutionen. Obsessiv ist er während seiner 40jährigen Laufbahn als Schriftsteller die ehemaligen Kolonien abgefahren, hat die neuen Herrscher und die entstehende Dritte Welt beobachtet, hat den islamischen Fundamentalismus von Iran bis Indonesien erlebt. V. S. Naipaul ist zwar in Trinidad geboren, stammt aber aus einer Brahmanenfamilie, die man am Ende des 19. Jahrhunderts aus Indien holte und zur Arbeit in die Karibik verschiffte. Ähnlich wie später die Schwarzen brauchte Naipaul die Tradition vergangener Größen, um sich für die Scham der Gegenwart zu entschädigen. („Ganz vergeßner Völker Müdigkeiten / kann ich nicht abtun von meinen Lidern“, heißt das, glaube ich, bei Hofmannsthal.) Aber er paßt sich an, er macht die Karriere, die der Bürokrat Blair mutwillig abbrechen wird. 1950, drei Jahre nachdem das britische Empire Indien aufgeben mußte, strebt Naipaul ins Zentrum dieses ausbleichenden Empires und hofft auf einen Abglanz der alten Größe.

Er studiert Literatur in Oxford, heiratet eine Engländerin, arbeitet bei der BBC. Auch wenn er lange nichts findet, worüber er schreiben könnte, erfüllt sich in London sein brahmanischer Dünkel. Er kann die Völker des zerfallenden Reiches mit dem Hochmut des Kolonialoffiziers betrachten, ihnen Trägheit, Rückständigkeit, Unbildung vorwerfen.

Über W. Somerset Maugham hat Naipaul in Oxford seine Abschlußarbeit geschrieben, mit Maugham hat sich für ihn auch der Roman erschöpft, es gibt nichts mehr zu erzählen, aber um so mehr zu berichten. Vielleicht hätte Naipaul lieber wie Maugham und vor ihm Joseph Conrad Erzählungen über Südostasien geschrieben, den verwehenden Ruhm des Empires im mürbe gegrübelten Überlebenden. Den Hochmut des britischen Kolonialoffiziers jedenfalls hat er sich bewahrt. Weil aber das Reich zerfallen ist, weil Naipaul eben kein gebürtiger Engländer, sondern ein ehemaliger Untertan ist, beschäftigen ihn Hysterie und Grausamkeit der ehemaligen Kolonialländer, kann er nichts Schöneres finden in den Tropen als einen Anlaß für seine Melancholie.

Weit unten in Feuerland traf der Weltreisende Bruce Chatwin einmal auf eine landesflüchtige Engländerin, die sich auf einer Estanzia um den Garten kümmerte. Seit sieben Jahren reiste sie um die Welt, und überall wollte sie dabei sein, wenn irgendwo Lilien blühten oder die Gerardtown-Wachspflanze oder die Känguruh-Pfote. Als nächstes mußte sie nach Nepal und die Azaleen dort blühen sehen, „und sie wollte reisen, bis sie tot umfiel“. Mit Chatwin staunt sie über die patagonische Vegetation, und mit Chatwin ist sie sich über die allesfressende Melancholie des Reisens einig: „Es ist wunderschön hier, aber wiederkommen möchte ich nicht.“ Ständig macht sich Naipaul Sorgen, „ob es mir gelingen würde, einen Stoff für mein nächstes Buch und für das danach zu

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finden“. Immer und immer wieder ist er deshalb auf das Eigentliche zurückgekommen, auf seine Geschichte, auf die seiner Herkunft, seiner depossedierten Familie. In den autobiographischen Mäanderungen im „Rätsel der Ankunft“ (1993 auf deutsch erschienen) hat er dieses Lebensproblem beharrlich ausgeschritten. Alles schien gesagt, und die Annäherung an den Mittelpunkt des Empires vollkommen. Aber in seinem „Weg in der Welt“ hat Naipaul das Schreiben noch mal ganz neu erlernt, heilige Brocken aus seiner Biographie zusammengelesen und dieses abschreckend kalte Buch über die Dritte Welt zustandegebracht. Eingeschlossen in diese Lebensläufe in durchweg absteigender Linie sind „ungeschriebene Geschichten“, Entwürfe für Drehbücher oder Stücke, aufgegebene Fiktionalisierungen seiner Obsessionen. Mit „Roman“, wie die deutsche Ausgabe behauptet, hat das schon gar nichts zu tun, eher ist „Ein Weg in der Welt“ eine (von Dirk van Gunsteren makellos übersetzte) politische Autobiographie, für die ein Zeitalter besichtigt wird. Die einzelnen Texte sind, wie man so sagt, kunstvoll komponiert und bilden zusammen eine Abrechnung mit der politischen Befreiungstheologie. In Afrika wie in den karibischen Kleinstaaten richtet sich das neue nationale Bewußtsein zuerst gegen die Weißen, dann gegen die anderen Fremden, gegen die Inder, und Naipaul, der sich doch ausgezeichnet hatte in der britischen Welt und ein weltreisender Herr sein wollte wie Somerset Maugham, wird wieder Inder.

„Es könnte auch sein, daß ich mit dem Gedanken aufgewachsen war, irgendwo im Hintergrund lauere immer Grausamkeit.“ Aber wie harmlos ist die kreatürliche Gewalt der nach Westen orientierten Gesellschaft in der Karibik, verglichen mit der Grausamkeit der neuen Herren! „Es gab Dutzende Methoden, diese dunkelhäutigen Menschen zu quälen. Und gequält wurden sie, nicht weil das ein Bestandteil eines Aktionsprogramms des Premierministers gewesen wäre, sondern einfach weil das Quälen von Menschen ein Aspekt der Führerschaft war.“

Auch Blair, Naipauls fleißiger Vorgesetzter in der Registratur von Port of Spain, vernahm das neue Evangelium, ging in die Politik und vertauschte die Anpassung an die traditionelle Obrigkeit mit einem aggressiven schwarzen Selbstbewußtsein. So brachte er es zu einer Stelle bei den Vereinten Nationen in New York und schließlich zum Sonderberater des Präsidenten eines afrikanischen Landes, das kurz zuvor erst seine Unabhängigkeit erlangt hatte. Dort treffen sich fünfzehn Jahre nach der kurzen gemeinsamen Arbeit in der Registratur Naipaul und Blair wieder: Naipaul als melancholischer, allzeit skeptischer Schriftsteller, den die marxistische Regierung wegen seines internationalen Renommees eingeladen hat; und Blair, ebenfalls eingeladen, erfüllt von der Mission des schwarzen Mannes, die sich zuerst in Afrika erfüllen müsse. Kurze Zeit später wird Blair ermordet aufgefunden. Die neuen Herrscher, denen er bei ihrem rassistischen Programm beistehen sollte, haben ihn beseitigen lassen, weil er ihre alten Pfründen zu beschneiden drohte.

Blair wird umgebracht, Kinder werden geschlachtet, um einem heimkehrenden Häuptling die rituelle Fußwaschung mit Blut angedeihen zu lassen: Die Dritte Welt als Abenteuerspielplatz von Moderne und atavistischer Grausamkeit, das kann man nur bei Naipaul in so erwünschter Deutlichkeit nachlesen. Bonjour, tristesse!

V. S. Naipaul: „Ein Weg in der Welt“. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hoffmann und Campe, 416 Seiten, geb., 39.80 DM

Vom selben Autor:

„Dunkle Gegenden. Sechs große Reportagen“. Zusammengestellt und aus dem Englischen übersetzt von Karin Graf. Eichborn Verlag, 320 Seiten, geb., 48 DM

„In einem freien Land“. Deutsch von Ursula von Zedlitz und Kerstin Gleba. Kiepenheuer & Witsch, 328 Seiten, geb., 45 DM