: Was ist genetische Erosion?
Seit der Umweltkonferenz von Rio sind Begriffe in die öffentliche Debatte eingedrungen, die zuvor nur Fachleuten geläufig waren: „Artenvielfalt“ und „genetische Erosion“. Beide hängen eng zusammen und beschreiben Phänomene, die erst mit der modernen Landwirtschaft zum Problem wurden. Denn in der Mitte des 19. Jahrhunderts ändert sich die Rolle des traditionellen Bauern, der sein Saatgut auf dem Hof nachzüchtet, mal mit Nachbarn austauscht und (eher selten) eine besonders ertragreiche Sorte aus einer anderen Gegend ausprobiert. Die Zahl der genetischen Varietäten, die auf diese Weise ausgesät, geerntet und fortgepflanzt wurde, ist unübersehbar groß.
Aber in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts treten erstmals in Großbritannien Züchter auf, die sich neue Erkenntnisse der Biologie zu eigen machen. Sie bieten Getreidearten an, die aus Kreuzungen relativ entfernter Verwandter hervorgegangen sind und deren jeweils günstige Eigenschaften kombinieren. Die Ernten fallen zunächst reicher aus, die Industrialisierung mit ihren hungernden Proletariern verlangt zur selben Zeit eine immer intensivere Produktion von Grundnahrungsmitteln. Bauern, die ihr Saatgut bei den neuen Züchtern einkaufen, können mehr liefern: Die Tür ist aufgestoßen zum Zeitalter der industriellen Landwirtschaft.
Zur selben Zeit werden auch die ersten systematischen Sammlungen von traditionellen Landwirtschaftspflanzen angelegt: die Vorläufer der heutigen Genbanken. Sie erst machen den agrotechnischen Fortschritt möglich, indem sie die veralteten Sorten sammeln, um sie für spätere Neuzüchtungen zur Verfügung zu haben. Denn die Kehrseite der neuen landwirtschaftlichen Produktivität zeigt sich bald. Die ertragreichen Pflanzen sind oft auch anfälliger für Krankheiten. Eine einzige Art von Krankheitskeimen kann plötzlich ganze Ernten vernichten, während zuvor jeweils nur bestimmte Sorten einzelner Bauern betroffen waren. Die Saatgut- und Zuchtfirmen versuchen bis heute, ihre Produkte mit immer neuen Kreuzungen und seit kurzem auch mit direkten Eingriffen in die Gene vor solchen Gefahren zu schützen. Immer weniger Sorten, die zudem in immer reinerer Form gezüchtet werden, genügen noch den Bedingungen der Massenproduktion. Die Folge ist eine nicht nur tatsächliche, sondern auch institutionelle Verarmung der Landwirtschaft. Mit einem Federstrich fegten die Minister der Europäischen Gemeinschaft 1980 beispielsweise 89 Prozent der zuvor gebräuchlichen Tomatensorten vom Markt – ganze achtzehn sind heute in Europa noch zugelassen.
Über die Gefahren, die mit dieser genetischen Erosion verbunden sind, streiten die Fachleute. Sie betrifft zunächst nur die extremen Nutzpflanzen, darunter auch die Hybridsorten. Die Zuchtfirmen sind deshalb darauf angewiesen, daß neben dem Saatgut, das sie den Landwirten verkaufen, auch andere, traditionelle Sorten weiter kultiviert werden, aus deren Keimen neue Hochleistungspflanzen aufgebaut werden können. Die in der Regel staatlich finanzierten Genbanken stellen dafür das genetische Reservoir zur Verfügung.
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