: Plötzlich gehört man zu den Bösen
Intellektuelle in der serbischen Hauptstadt reflektieren ihre Rolle nach vier Jahren Krieg im ehemaligen Jugoslawien ■ Aus Belgrad Jürgen Gottschlich
„Was ist Serbien? Eine Mischung aus Haiti, Paraguay, Nord- Korea und Ostdeutschland.“ K. gehört zu den Leuten, die an ihrem Land schier verzweifeln. Als Redakteur der Politika, dem Intelligenzblatt des Regimes, ist er zwar als Person ins völlige Abseits gedrängt, aber dennoch über Schein und Sein in Serbien bestens informiert. „Ich war Zeit meines Lebens im Clinch mit dem kommunistischen System jugoslawischer Prägung. Aber jetzt könnte ich Titoist werden. Milošević und die anderen Zwerge nach Tito haben das Land zugrunde gerichtet, und wir haben es zugelassen“.
Diese Innenansicht steht in völligem Kontrast zur Außenansicht Belgrads. Dem Embargo und der damit einhergehenden Energieknappheit zum Trotz ist Belgrad im Oktober 1995 eine pulsierende Stadt, die im Angesicht des Todes in Bosnien-Herzegowina geradezu überschäumendes Leben verspricht. Im Vergleich zum Berliner Alexanderplatz ist der Belgrader Platz der Republik ein Beispiel urbanen Lebens. Volle Straßencafés, eingerahmt von klassischen Bauten, in denen unter anderem das Nationaltheater untergebracht ist, erinnern eher an Ferien in Italien als an eine Stadt in der Etappe. Auf der Kneza Mihaila, der Fußgängerzone, die den zentralen Platz mit dem Kalemegdan, dem Park hoch über dem Zusammenfluß von Donau und Save, verbindet, flaniert das Volk, als gäbe es tatsächlich nichts Wichtigeres als eine Boutiqueauslage oder das Café mit dem besten Gebäck.
Das war vor ein paar Monaten noch anders. Als der Austausch von Menschen und Material zwischen den bosnischen Serben und Belgrad noch intensiver war, sorgten Fronturlauber in den Cafés der Hauptstadt regelmäßig für Tumulte. Wer nicht prompt bedient wurde, half häufig mit der Pistole nach, berichten Belgrader über die Auswirkungen des Kriegs an der Heimatfront. Doch seit Präsident Slobodan Milošević sich als Friedensmacher präsentieren möchte, sind diese Zeiten vorbei. Auf den Straßen Belgrads ist bereits Frieden eingekehrt.
Dafür geht der Krieg in den Köpfen weiter. „Welches Kind in Belgrad kann heute noch sagen, es hat einen muslimischen Vater, oder welches Kind kann sich in Kroatien noch zu seiner serbischen Mutter bekennen?“ Auch wenn in Bosnien die Waffen schweigen sollten, sieht Borka Pavicević den Frieden noch in weiter Ferne. Sie ist Managerin des Avantgardetheaters „Zentrum für Dekontaminierung“. Obwohl das Theater versteckt in einem Hinterhof liegt, weiß jeder sofort Bescheid, wenn er die Adresse hört: direkt hinter dem deutschen Konsulat.
Während die Visastelle von einer Menschenmenge belagert wird, geht es im Hinterhof beschaulicher zu. Ein leerer Saal in einem freistehenden Gebäude ist Ausstellungs- und Vorführort in einem. Was bedeutet „Dekontamination“ im Theater? „Wir wollen dem Gift des Nationalismus, der Verseuchung der jugoslawischen Gesellschaft wenigstens eine Winzigkeit entgegensetzen.“ Pavicević ist eine quirlige, temperamentvolle Frau, die mühelos mit drei Leuten gleichzeitig über unterschiedliche Themen redet. Das letzte Stück war eine Dostojewski- Verfremdung und jede Vorstellung rappelvoll. Allerdings passen auch nicht mehr als 200 Leute in den Raum. Für Pavicević und ihre Freunde – sie organisiert auch den sogenannten Belgrader Kreis, in dem sich der Rest der regimekritischen Intellektuellen der Stadt trifft – geht es darum, die eigene Geschichte wieder zu erobern. „Sie, die Ideologen des Nationalismus, haben gewaltsam ihre Sicht der Geschichte durchgedrückt. Das Ergebnis sind ungezählte Tote und ungefähr fünf Millionen umherirrende entwurzelte Leute, Flüchtlinge im eigenen Land.“
Doch der Kreis derjenigen in Belgrad, die „dem Irrsinn etwas entgegensetzen wollen“, ist klein. Man kennt sich untereinander, oft schon seit Jahren, und fast alle haben in der einen oder anderen Weise mit einer der wenigen Institutionen des Widerspruchs in Serbien zu tun. Neben dem Avantgardetheater sind das noch das Wochenblatt Vreme, die Tageszeitung Nasa Borba und das frühere Studentenradio B 92, dessen Mitarbeiter mittlerweile nicht nur ein professionelles Nachrichtenradio machen, sondern auch Filme produzieren, Bücher verlegen und CDs von selbstorganisierten Konzerten auf den Markt bringen. In nur vier Räumen in einem häßlichen Bürohaus im Zentrum drängeln sich bis zu 30 Personen, um ein Programm rund um die Uhr zu produzieren.
Das erstaunlichste an B 92 ist, daß es den Sender überhaupt gibt. Es gibt keine Lizenz, kein Geld und keine Aussicht auf Werbeeinnahmen, das einzige Kapital ist der Enthusiasmus der Mitarbeiter. „Mittlerweile“ so Chefredakteur Veran Matić, „bekommen wir etwas Unterstützung aus dem Ausland. Außerdem verdienen wir durch Bücher, Kasseten und Filme immerhin soviel, daß wir die Hälfte des notwendigen Budgets daraus bestreiten können.“ Warum der Sender vom Regime toleriert wird, bleibt für den auswärtigen Besucher rätselhaft. „Wir sind eben populär, die können uns nicht einfach ausschalten“, glaubt Matić.
Tatsächlich ist der alternative Medienbetrieb die einzige außerparlamentarische Organisation, die noch etwas auf die Beine bringt. Zuletzt trommelte der Sender Spenden für Flüchtlinge aus der Krajina zusammen und konnte selbst die Belgrader Taxifahrer dazu bringen, Lebensmittel und Decken direkt an die bosnisch-serbische Grenze zu bringen. „Die Leute trauen dem serbischen Roten Kreuz oder anderen Staatsorganisationen nicht. Sie wollten unbedingt, daß wir die Spenden direkt abliefern“, berichtet Vera Konjovic, die in der Filmproduktion des Senders engagiert ist.
„Vor zwei, drei Jahren war es auch noch möglich, Friedensdemonstrationen zu organisieren. Das geht jetzt nicht mehr. Die Leute sind völlig demoralisiert.“ Einen Grund dafür sieht Konjovic in der mangelnden Resonanz aus dem Ausland. „Habt ihr überhaupt registriert, daß hier über hundertausend Leute gegen den Krieg auf die Straße gegangen sind? Wißt ihr, wie viele junge Männer abgetaucht oder ins Ausland geflüchtet sind, um nicht gezwungen zu werden, auf ihre Freunde zu schießen?“
Konjovic gehört zu den SerbInnen, die besonders darunter leiden, plötzlich zu den „Bösen“ gezählt zu werden. Sie kommt aus einer mitteleuropäischen Familie, in der traditionell deutsch gesprochen wurde und die schließlich im serbisch-ungarischen Grenzgebiet landete. Jedweder Nationalismus ist ihr fremd. „Die Belgrader“, davon ist sie überzeugt, „sind auch heute in ihrer Mehrheit nicht verhetzt und sind tolerant geblieben. Das Problem ist das Regime, und das Regime wird gestützt aus der serbischen Provinz und den Serben außerhalb Serbiens.“
Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt durchaus Belgrader, die sich zu wichtigen Stützen des Regimes entwickelt haben. Der prominenteste ist Mihailo Markovic. Er ist der bekannteste Philosoph des ehemaligen Jugoslawien. Zu Titos Zeiten war er der Kopf der „Praxis-Gruppe“, Intellektuelle, die sich gegen das despotische Regime des Marschalls wehrten und eine offene marxistische Diskussion forderten. Markovic mußte die Universität verlassen. „Viele von uns“, erinnert sich der Politika-Redakteur K., „sind damals aus Protest mit ihm von der Uni gegangen“. Auch Milos Vasić, einer der führenden Leute der oppositionellen Wochenzeitung Vreme, gehörte zu den ehemaligen studentischen Anhängern von Markovic. Über die Gründe für den Wandel seines einstigen Vorbilds kann er auch nur spekulieren: „Vielleicht will Markovic im Alter unbedingt noch einmal mitmischen.“ Nach dem Ende des Kommunismus ist er mit den Herrschenden zum „Nationalismus übergelaufen“.
Mihailo Markovic sieht das natürlich ganz anders. Der Philosoph empfängt in seinem Haus im Belgrader Prominentenviertel Senjak. Die kleine Villa entspricht aber eher dem früheren Dissidenten Markovic. Kein Pomp, keine Insignien der Macht, sondern die vollgestopfte Bibliothek bestimmt die Atmosphäre des Hauses. Auch der Hausherr tritt betont leger auf. In Jeans und T-Shirt erklärt der alte Herr, warum Serbien eine gute Demokratie und er ihr Prophet wurde. Eine halbe Million Mitglieder der 1991 gegründeten regierenden Sozialistischen Partei hätten ihn gebeten, eine neue Plattform, ein Parteiprogramm zu schreiben. „Da kann man doch nicht nein sagen.“ Er habe sich darüber hinaus in der Umbruchsituation 1990/91 gefordert gefühlt, zusammen mit Gleichgesinnten zu verhindern, daß Rechtsradikale wie Vojislav Šešilj oder Nationalisten wie Vuk Drašković die Macht übernehmen. Die Schuldfrage stellt sich für ihn nicht. Ruhig erläutert er, warum der kroatische Präsident Franjo Tudjman ein Faschist sei und den Serben nichts anderes übriggeblieben sei, als sich zu wehren. „Stellen Sie sich vor, im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg wären rund 200.000 Juden in einem zusammenhängenden Siedlungsraum in Deutschland geblieben. Wenn dann erneut die Faschisten in Deutschland an die Macht gekommen wären, hätten die Juden nicht das Recht gehabt, sich zu verteidigen? Die ganze Welt hätte das verstanden.“ Warum verstehe die Welt nicht, daß auch die Serben sich wehren, wenn ihnen dasselbe passiere, möchte Markovic wissen.
Der einzige prominente Politiker Belgrads, der auch von serbischer Schuld spricht, ist Vuk Drašković. Er ist wie viele osteuropäische Politiker eigentlich Schriftsteller, nur vermeidet er zur Zeit den Umweg über das Buch und spricht seine Gemeinde direkt an. Der Rauschebart hat alle Qualitäten eines Volkstribuns. Das ist im direkten Gespräch eher lästig, weil Drašković auch im kleinen Kreis mehr deklamiert als diskutiert. Trotzdem wird klar, daß der Mann, der vor wenigen Jahren auch von einem Großserbien tönte, jetzt die Versöhnung will. „Eine Schwester von mir ist mit einem Kroaten verheiratet, die andere mit einem Muslim. Ich bin überzeugt davon, daß Bosnien wieder zu einem ethnischen Flickenteppich wird.“ Zur Zeit laufen Verhandlungen zwischen Drašković und Milošević über eine Beteiligung der Drasković-Bewegung an der Regierung.
Auf die Frage, warum Milošević Drašković eigentlich an der Macht beteiligen sollte, hat der Politika- Redakteur K. nur eine Antwort: die Teilung der Schuld. Auch das Ergebnis sei klar: „Eine der Strafen für die Verbrechen der Serben“, so K., „wird sein, daß Milošević noch mindestens zehn Jahre an der Macht bleibt.“
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