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„Politik der Täuschung der Ostdeutschen“

■ In der Debatte zum Jahrestag der Einheit erhebt Scharping massive Vorwürfe gegen Kohl und erhält für seine Rede demonstrativen Beifall seiner Fraktion

Bonn (taz) – An den „blühenden Landschaften“ in den neuen Ländern scheiden sich auch fünf Jahre nach dem 3. Oktober 1990 die Geister. Daß Bundeskanzler Helmut Kohl gestern in der Bundestagsdebatte zum Jahrestag der Einheit sein vielstrapaziertes Bild erneut bemühte, brachte Oppositionschef Rudolf Scharping mächtig in Fahrt: Ein „Schlüsselglied für eine Politik der Täuschung und Übervorteilung der Ostdeutschen“ nannte der SPD-Partei- und -Fraktionschef das Glücksversprechen von der Regierungsbank. Scharping hielt dem Kanzler nach dessen Regierungserklärung vor, es gehe ihm vor allem um „die Verbreitung eines Gefühls“ und nicht um eine realistische Bestandsaufnahme von Leistungen und Fehlern seit 1990. Dabei sei eine „ehrliche Bilanz“ die einzige Möglichkeit, Vertrauen der Ostdeutschen in die Politik zurückzugewinnen, das auf „fahrlässige Weise“ verspielt worden sei. Eine „bedrohlich veränderte Stimmung“, gar eine „politische Vertrauenskrise“ präge nun die neuen Länder. Verantwortlich dafür macht er die Wahrnehmungstaubheit der Kohl- Regierung und deren Weigerung, alte, falsche Weichenstellungen des Einigungsprozesses endlich zu korrigieren.

Der SPD-Chef rang sich aber dazu durch, Kohls Verdienste beim Zustandekommen der Einheit zu würdigen. Allein bei der Gestaltung der Einheit versage die Regierung und begehe schwerwiegende Fehler. Am Ende seiner vergleichsweise kämpferischen Rede wurde Scharping von der SPD- Fraktion mit langem und demonstrativen Beifall bedacht.

Mit einer überwiegend positiven Bilanz der vergangenen Jahre hatte Kohl zuvor wenig überrascht. Die Menschen im Westen rief der Bundeskanzler auf, mehr Verständnis für die Unsicherheiten und Belastungen aufzubringen, die die gewaltigen Umstellungen für die BürgerInnen im Osten bedeuteten.

Der parlamentarische Geschäftsführer des Bündnis 90/Die Grünen, Werner Schulz, warnte vor einer Legendenbildung zur Einheit. Die Einheit bezeichnete er als „Selbstbefreiung einer aktiven Generation“, die das vereinte Deutschland mit viel Elan habe mitgestalten wollen. Der Regierung warf der ehemalige Bürgerrechtler Schulz vor, sie habe die mit der Einigung gegebene „Chance zum kreativen Umbau“ westlicher Fehlentwicklungen vertan. Sie habe keine Anstöße zur Reform der verkrusteten Verwaltungsstrukturen, für einen ökologischen Industriewandel in ganz Deutschland oder den nötigen Umbau des Sozialsystems gegeben. Hans Monath

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