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Nicht immer nur Corega Tabs

Industrie und Produkt-Designer entdecken ein neues Marktsegment: die Alten  ■ Von Stefan Koldehoff

Eine Rezession erkennen Demoskopen, Demographen und Werbetreibende weniger am Bruttosozialprodukt als an den immer kürzeren Abständen, in denen die Wirtschaft hektisch die eine, für sie alles entscheidende Frage stellt: Wo sitzt das Geld, wo sind die Märkte? Trotzdem dauerte es bis Mitte der achtziger Jahre, bis endlich auch die Marketingleiter in den Unternehmen einsahen, was sich als demographischer Trend längst verfestigt hatte: Die Alterspyramide droht umzukippen, den Alten gehört die Zukunft – sie entscheiden im neuen Jahrtausend über den Erfolg oder Mißerfolg von Produktion.

Entsprechend hastig fielen die Reaktionen aus: Neue Marketingkonzepte mußten erdacht, neue Produkte entwickelt werden, um der erwarteten veränderten Nachfragesituation entsprechen zu können. „Mit Öffnung der Mauer war dann allerdings schlagartig wieder Schluß“, erinnert sich der Marketingexperte Karl-Reiner Lassek. „Alles rannte in den Osten, weil plötzlich dort das neue Eldorado zu sein schien.“

Als 1993 mangels der versprochenen „blühenden Landschaften im Osten“ aber auch dort die wirtschaftliche Ernüchterung einsetzte, entschieden sich Lassek und Kollegen aus inzwischen 14 weiteren europäischen Staaten zur Gründung des „European Design for Ageing Network“ (DAN). Das Netzwerk arbeitet industrieunabhängig – wenngleich es neben der Europäischen Union auch von verschiedenen Unternehmen gestützt wird. Es umfaßt Institutionen wie das National College of Art and Design in Dublin, die Fachhochschule Niederrhein in Krefeld, das Danish Center for the Disabled oder die Technische Universität von Lissabon ebenso wie Architekturbüros und Marketingagenturen, Designerteams und Kunsthochschulen. Durch Befragungen und Studien versuchen sie, die täglichen Bedürfnisse alter Menschen herauszufinden, um darauf reagieren zu können. Die Abteilung für „bio- medical-care“ der Universität von Eindhoven etwa untersucht im Rahmen des Netzwerk-Verbundes speziell die sich wandelnden körperlichen Bedürfnisse älterer Menschen.

Ziel der Netzwerkarbeit ist dabei, über Design und industrielle Umsetzung Fachwissen und Verständnis für den Alterungsprozeß der deutschen Gesellschaft zu schaffen. Die Überlegungen bleiben nicht allein auf Produkte beschränkt. „Wir fassen den ja ohnehin sehr dehnbaren Begriff Design noch einmal weiter“, erläutert Karl-Reiner Lassek, der die DAN- Aktivitäten in Deutschland koordiniert. „Dazu gehören etwa auch Städtebau und Beschilderung oder Dienstleistungen.“ Einfachste Wegweiser sind häufig typographisch so gestaltet, daß alte Menschen mit schlechten Augen sie kaum entziffern können: Schriften sind zu klein oder der vermeintlichen Ästhetik wegen schlecht lesbar. Leitsysteme zu Bushaltestellen oder öffentlichen Gebäuden werden nicht konsequent gestaltet, die entsprechenden Schilder sind oft nicht auf Anhieb zu erkennen. Bänke auf öffentlichen Plätzen werden zwar preiswert und reinigungsfreundlich gekauft, dafür sind sie in den seltensten Fällen bequem.

Das DAN versucht, gemeinsam mit Gerontologen und Psychologen, Designern und Fachleuten der jeweils betroffenen Branchen, Lösungen zu erarbeiten, die funktionslogisch, ansehnlich und finanzierbar sein müssen. Erste konkrete Erfolge gibt es dabei bereits im kleinen: Die durchschnittliche Sitzhöhe einer mitteleuropäischen Toilettenschüssel beträgt seit mehr als 100 Jahren zwischen 39 und 40 Zentimeter. Für alte Leute wären aber fünf Zentimeter mehr der goldene Schnitt: Sie säßen dann nicht so tief und hätten weniger Schwierigkeiten mit dem Aufstehen. Vom DAN erst auf das kleine Problem mit dem großen Geschäft aufmerksam gemacht, denken verschiedene Produzenten nun über eine Erweiterung der einschlägigen Produktpalette nach.

Das Beispiel macht zugleich die Schwierigkeiten deutlich, vor die sich vor allem Industrie und Werbung als umsetzende Instanzen durch die neuen, umfassenden Design-Ansätze gestellt sehen: Zwar hat echter Wettbewerb im klar definierten Marktsegment noch kaum begonnen. Trotzdem scheuen die Unternehmen schon jetzt die allein auf die Zielgruppe Alte ausgerichtete Werbung; sie ist bis heute, mit Ausnahme der einschlägigen Inserate in der Yellowpress, ein Tabu geblieben. Obwohl es noch kaum realisierte Produktideen gibt, suchen die DAN-Mitglieder deshalb schon jetzt auch nach neuen PR-Ansätzen. Sie stehen dabei vor der problematischen Aufgabe, die Entwicklung von Bedürfnissen und Kaufinteressen für eine Zielgruppe vorauszusehen, die erst noch im Entstehen begriffen ist.

„Dieser neue Markt könnte für Designer das sein, was die Rüttelstrecke für einen Auto-Testfahrer ist“, meint Karl-Reiner Lassek. „Wer hier besteht, schafft's auch am normalen Markt.“ Die meisten der bislang von den DAN-Mitgliedern entwickelten Produkte könnten nämlich durchaus auch jüngeren Menschen das Leben vereinfachen, das belegen die Einsendungen zum 1995 erstmals verliehenen „New Design for Old Award“.

So entwickelte Philip Dawson vom Cardiff Institute of Higher Education an der University of Plymouth eine elektronische Erinnerungshilfe, die einfach zu programmieren ist und deren Benutzung Spaß macht. Garvin Pyke konstruierte eine durch ergonomische Formgebung besser in der Hand liegende und dadurch auch besser zu öffnende Glaskonserve: der Schraubdeckel ist größer und bietet mehr „Angriffsfläche“. Mit dem Hauptpreis wurde Sophie Goswell von der University of Northumbria in Newcastle für einen zweiteiligen Badeanzug ausgezeichnet, dessen Oberteil ähnlich wie die Jacke eines Surf-Anzuges mit Reißverschluß bequem an- und auszuziehen ist. Bislang kann die anvisierte Zielgruppe ihre Rente aber noch für keines dieser Produkte in die Läden tragen: Keiner der prämierten Prototypen ist bereits in die industrielle Serienfertigung gegangen.

Im Vordergrund steht also nicht die Idee, den Alten so viele Tätigkeiten wie nur möglich abzunehmen. Ziel ist es ebensowenig, ihnen eine irreale Scheinwelt à la „Golden Girls“ vorzugaukeln, in der es trotz all der Hormocenta, Knoblauchpillen und Corega Tabs kein Altern zu geben scheint. Nachdenken wollen die Designer vor allem darüber, wie alltäglich notwendige Tätigkeiten vereinfacht werden können.

Ein Problem können allerdings auch die bestgemeinten Überlegungen des Altendesign-Netzwerkes nicht lösen: Denn der Maßstab für die Realisierbarkeit der neu durchdachten Produkte, Dienstleistungen und Umweltveränderungen ist deren Finanzierbarkeit durch entsprechende Marktnachfrage. Mit der Zahl der Alten steigt aber auch die Zahl der Sozialhilfeempfänger am Rande des Existenzminimums. Immer mehr alten Menschen drohen soziale Verelendung und Armut.

Design läuft deshalb immer auch Gefahr, nicht mehr als das Feigenblatt für politische Ver„säumnisse oder bewußt einkalkulierte Schnitte ins soziale Netz zu entwerfen.

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