: Zünder mit Zeitverzögerung
■ Der „Selig“-Auftritt im Modernes: Gegen die verschränkten Arme in unseren Köpfen
„Selig“ haben ein seltsames Publikum, weil sie ein seltsames Phänomen sind. Einerseits spielen sie recht unspektakulären Retro-Rock, der sich bei der Rave-Generation schwertun müßte, andererseits sehen sie in Videos sehr gut aus, sodaß regelmäßig nachmittags auf „Viva“ Briefe von vierzehnjährigen Mädchen, die „den einen von 'Selig'“ total süß finden, vorgelesen werden wollen.
Dementsprechend gemischt waren die Altersgruppen, die am Dienstag zum Auftritt der Hamburger Jungs das Modernes rappelvoll machten. Ganz vorne schwitzten, hüpften und kreischten Mädchen, die zu einem großen Teil noch zu jung waren, um schon ein Feuerzeug fürs Schwenken während der Balladen in der Tasche zu haben. Etwas weiter hinten beäugten deutlich ältere Jahrgänge das Geschehen, die Arme zunächst abwehrend vor der Brust verschränkt. Man wußte, daß die Band da vorne diese Musik nicht erfunden hatte, und man wollte sie etwas leisten sehen, bevor man ihnen Beifall zollte.
Mißtrauen war zunächst durchaus angebracht. Kaum kam man in den Saal, da wimmerten auf der Bühne bereits Gitarre und Kehle in psychedelisch entrückten Sphären, als wolle die Band vorwiegend selbst ihren Spaß haben, egal ob das Publikum auch noch da war. Hatten die etwa pünktlich angefangen? Und die wollen eine Rock'n'Roll-Band sein?
Die Arme der Skeptiker blieben verschränkt, die Blicke eisern, die Backfische jubelten nichtsdestotrotz. Schon mit dem nächsten Stück aber wurde das Programm straighter. Songs waren als solche zu erkennen. Der Sänger hüpfte wie eine Mischung aus Derwisch und frühem Otto Waalkes über die Bühne und zuckte komisch, wenn jemand ein Solo spielte. Gitarrist und Bassist stellten sich immer wieder vorbildlich gegenüber voneinander auf und schüttelten den Schweiß aus ihren langen Haaren aufs Instrument des jeweils anderen. Das alles sah aus wie ein Rock'n'Roll-Konzert und hörte sich ansatzweise so an, aber das gewisse je-ne-sais-quoi fehlte. Allerdings schien sich der sprichwörtliche Funke bereits hinter den Boxen oder den dekorativ ums Beleuchtungsgerüst drapierten Laken zu verstecken; lediglich mit dem Überspringen ließ er sich Zeit.
Plötzlich sprang er doch, und er sprang weit. Er sprang sogar bis zur Fraktion der Mißtrauischen, die sich bald bemüht unauffällig umguckten, ob schon jemand anderes in ihrem Alter mit dem Klatschen und Mitwippen begonnen hatte, und fielen erleichtert mit ein, wenn sie merkten, daß sie nicht alleine waren.
„Selig“ bedienten sich live wie auf ihren Platten ohne schlechtes Gewissen bei den Klassikern des Genres und machten daraus immer wieder etwas eigenes. Nicht mal, daß der vom vielen Gitarrespielen schon ganz muskulöse Gitarrist immerzu ausgiebige Soli spielen wollte und das auch durfte, mochte einen stören. Ebenso konnte man nur flüchtig belächeln, daß die meisten schnelleren Lieder wie „Sweet Home Alabama“ und alle langsameren wie „Under the Bridge“ anfingen. Zum Schluß klangen sie stets unverwechselbar nach „Selig“, und die Anfänge hätten genauso gut böse Zufälle sein können. So war es an diesem Abend letztendlich doch cool, „Selig“ zu mögen.
Andreas Neuenkirchen
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