Wahlverlierer SPD diskutiert Zukunft

■ Nach verheerender Wahlniederlage begann noch in der Nacht die Diskussion um die Fortsetzung der Großen Koalition / Basis diskutiert über Tolerierung durch PDS / Gedämpfter Jubel bei den Grünen

Nach der dramatischen Wahlschlappe der SPD will ihr Fraktionsvorsitzender Klaus Böger verhindern, daß sich seine Partei zerfleischt. Dort wo er es könne, will er Tacheles reden, nämlich bevorzugt in Parteigremien – hinter verschlossenen Türen. „Der Kuchen für rot-grün muß größer werden“, sagte Böger weiter, „wir müssen heran an die Stimmen der Mitte.“ Doch über den Weg dahin gab es gestern innerhalb der Sozialdemokraten zwei verschiedene Meinungen. Ein Teil will die Große Koalition fortsetzen, andere erwägen einen Wechsel in die Oppositionsrolle.

Zu den letzteren zählt der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Wolfgang Thierse: „Über die Opposition müßte man diskutieren.“ Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) bezweifelte, daß es eine Neuauflage der Großen Koalition geben kann. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Parteitag sagt, weiter so.“ Die SPD habe schließlich das schlechsteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte geholt. Der Europaabgeordnete Christof Tannert hielt die Oppositionsrolle ebenfalls für eine „denkbare Variante“. Das wäre eine Zeit, wo „wir ohne Rücksicht auf Kompromisse Positionen beziehen können“. In der Großen Koalition habe die SPD als Juniorpartner keine Chance.

Bausenator Wolfgang Nagel lehnte die Tolerierung einer CDU- Minderheitsregierung ab. Das wäre ein „Mitregieren ohne Einfluß“ und würde jeweils Fraktion wie Partei spalten. Walter Momper sprach von einem „politischen Quatsch“. Parteien seien dazu da, zu regieren und nicht dazu da, Spielchen zu treiben. Der frühere Jugendsenator und Parteilinke Thomas Krüger meinte, die SPD sei nicht gewählt worden, um in die Opposition zu gehen. Der CDU müsse ins Stammbuch geschrieben werden, daß sie keine strukturelle Mehrheit hat. Fraktionssprecher Hans-Peter Stadtmüller erklärte, die CDU müsse bei den Verhandlungen der SPD „weit“ entgegen kommen. Alle anderen Überlegungen als eine Regierungsbeteiligung würde die SPD kaputtmachen.

Die Bündnisgrüne Renate Künast wies Bögers Behauptung zurück, Rot und Grün würden sich gegenseitig die Wähler wegnehmen. Es sei ein Fehler der SPD, unentscheiden zu sein und ansonsten auf Technikprojekte wie Transrapid und Gentechnik zu setzen, um so die Stimmen der Mitte zu gewinnen. Christian Ströbele bekräftigte, daß Bögers Behauptung schon rechnerisch nicht zutreffen könne. Die SPD verliere im Osten an die PDS und im Westen an die CDU.

Erste Untersuchungen geben Ströbele recht. Von den 200.000 Wählern, die die SPD im Vergleich zur letzten Wahl 1990 verlor, sollen sich gerade ein Zehntel für die Grünen entschieden haben, 21.000 SPD-Wähler wählten PDS, 100.000 gar nicht und der Rest CDU, FDP und andere Parteien. Die SPD solle die Große Koalition verlassen, riet Ströbele, weil mit der CDU kein Blumentopf zu gewinnen sei. In der Opposition sollte sich die SPD mit den Bündnisgrünen neu formieren.

Im Festzelt der SPD vor dem Martin-Gropius-Bau zeigten sich die Genossen von der Basis wenig überzeugt von der Linie der Parteiführung, die Verantwortung auf Bonn zu schieben und ansonsten zwar die „Brunnenvergifter“ in der CDU zu beschimpfen, gleichwohl aber eine Neuauflage der Großen Koalition anzupeilen. Die Stimmung tendierte dazu, einen Minderheitssenat der CDU zu tolerieren. Viele bezeichneten gar eine PDS-Duldung als wünschenswert. „Die Berliner SPD hat sich in der großen Koalition kaputtregiert“, erklärte der Juso-Landesvorsitzende Matthias Linnekugel, „die SPD kann ihrer Verantwortung für die Stadt besser gerecht werdenk wenn sie eine Minderheitsregierung der CDU punktuell toleriert“. Linnekugel sprach sich aber gegen ein „Schlachtfest“ an der Parteispitze aus. „Wenn es an jemandem nicht gelegen hat, dann war es Ingrid Stahmer“, sagte auch Oliver Vogelsmeier, Direktkandidat in Mitte.

Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen kommentierten das SPD- Debakel nicht ohne Häme. „Wir sind die Partei, die klar zugelegt hat, nicht die SPD“, sagte die zukünftige grüne Kulturexpertin Alice Ströver. Die SPD hätte mit einer rot-grünen Wahlaussage deutlich Zeichen setzen können. Auch der verkehrspolitische Sprecher Michael Cramer sieht die Gründe für das SPD-Desaster in einem Mangel an Reformwillen. Die SPD habe es „geradezu vermieden, Aussagen zu einer politischen Alternative zu machen“. Ihr Wahlkampf sowie ihre Politik seien inhaltsleer geworden. sev/diak/rola