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Praline am Ende eines langen Tages

■ Liebe, Erdbeben und Rechtsruck vereint: Peter Sellars im Gespräch über sein neues Musical

Das Schönste an der Inszenierung von „I was looking at the ceiling and then I saw the sky“ ist ihr Titel: Wer an die Decke schaut und den Himmel sieht, ist zweifellos erschüttert worden. Auslöser: die Liebe und das Erdbeben, Ort der Handlung: Los Angeles davor und danach. Sieben Protagonisten stehen für die weiße, schwarze, vietnamesische und salvadorianische Kultur. Ihre Probleme wurden in 24 Songs gepackt: Die Texte der Schriftstellerin June Jordan sind von äußerster Schlichtheit, John Adams' Musik ist oft eingängig und immer originell. Eine politische Oper wollte Peter Sellars inszenieren, in der sieben Menschen auf dem Höhepunkt sozialer Spannungen die Liebe finden und ihr Amerika. Doch wer die „West Side Story“ mit Garagenpunk und Sozialarbeitermoral kreuzt, reduziert reichhaltiges Theater auf das gekonnte Absingen von Liedern und opfert widersprüchliche Personen den schlichten Botschaften: „Make love, not war“ und „This land is my land“.

taz: Das Musical zeigt die Konflikte von sieben jungen Leuten in Los Angeles, und es kreist um Rassismus und Armut. Wollten Sie Ihrem Land einen Spiegel vorhalten?

Peter Sellars: Amerika hat sich durch eine bestimmte Art von Großzügigkeit und Offenherzigkeit ausgezeichnet, und jetzt sehe ich, daß dieselbe Gesellschaft wirklich bösartig wird und Menschen beschädigt. Die Regierung scheint zu akzeptieren, daß Einwanderer angegriffen werden. Sie sagt den Leuten, das Armut ihre eigene Schuld sei, und es ist der älteren Generation offenbar kaum noch wichtig, wenn junge Leute nicht mehr ausgebildet werden. Die Welt ist komplexer als je zuvor, die technologische Entwicklung geht voran, und jetzt kürzt man ausgerechnet das Budget für die Erziehung – das ist unglaublich und läßt mich verzweifeln. Weil wir in einer selbstsüchtigen Zeit leben, haben wir ein Musical über Menschen, die jemanden lieben, gemacht. Erst wenn man sich um einen anderen kümmert und beginnt, sich in ihn hineinzuversetzen, kann man dieser Selbstsucht etwas entgegensetzen. Aber das geht erst, wenn man liebt oder verliebt gewesen ist.

Was macht dann den Unterschied zu Hollywoods großem Gefühlskino aus?

Diese Filme entwerfen ein bourgeoises, selbstgefälliges Bild von Liebe. Wir verstehen Liebe als Hingabe: Wenn man sein Leben einem Menschen oder einer Sache widmet und dabei die eigene Umgebung ebenso wie die Welt im Blick hat. Die Erste und die Dritte Welt haben sich doch längst ineinander verschränkt, und der Wohlstand des Westens beruht auf der Abwesenheit von Wohlstand in der Dritten Welt. In der gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Krise, die wir derzeit erleben, nähert sich beides an, und die Menschen in den USA entdecken die Dritte Welt in ihrem eigenen Land, weil unsere Lebensqualität zusammenbricht. Für viele ist das sehr beängstigend, aber es beginnt damit auch ein lange überfälliger Ausgleich der Geschichte. Die Gesellschaft droht Selbstmord zu begehen, und das greifen wir mit dem Bild vom großen Erdbeben auf: Inmitten größter Zerstörung liegt auch immer die Möglichkeit umzudenken und wieder aufzubauen.

Das bedeutet auch, die Erfahrungen der Leute unmittelbar auf die Bühne zu bringen?

Gerade jetzt muß es unterschiedliche Strategien geben; man muß auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Eine Gesellschaft mit so vielen divergierenden Meinungen wie unsere braucht eine entsprechende Vielzahl von Stimmen. Die sieben Personen der Inszenierung sind sehr unterschiedlich, aber sie alle erheben in dem Konflikt ihre Stimme mit gleichem Recht. In den USA wird der Ruf nach einer einzigen starken Stimme immer lauter, und man will uns glauben machen, alles, was von der Mehrheit abweiche, sei falsch und müsse ausgelöscht werden. Das ist durch und durch faschistische Ideologie, so war Amerika niemals. Die Quelle aller Gewalt ist doch, wenn Menschen keine Möglichkeit haben, sich auszudrücken, wenn freie Rede nicht erwünscht ist. Es geht nicht darum, etwas für richtig oder falsch zu erklären, sondern die Künste haben als öffentliche Plattform die Verantwortung dafür, möglichst viele Stimmen hörbar werden zu lassen, die weder im Fernsehen noch im Parlament oder in den Zeitungen zu finden sind.

Wie weit greifen Sie auf das politische Theater der sechziger und siebziger Jahre zurück?

Ich bin in dieser Zeit groß geworden, und sie hat mich natürlich sehr beeinflußt. Heute ist es sehr aufregend, an diese Bewegungen anzuknüpfen, ohne ihre Fehler zu wiederholen. Falsch war der Versuch, durch Massenbewegungen etwas bewirken zu wollen – das brach zusammen, weil es an Eigenverantwortlichkeit fehlte. Daß Ideologie nichts nützt, ist vielleicht das Wichtigste, das wir am Ende dieses Jahrhunderts gelernt haben. Ideologie lieferte die Entschuldigung dafür, daß Menschen einander umbringen, und wir sollten sie aus unserer Arbeit verbannen. Manche Kritiker haben unsere Inszenierung als simplifizierend angegriffen, genau weil sie die große ideologische Diskussion erwartet haben, und die haben wir von der Bühne ferngehalten.

Ihre Kritiker vermißten dagegen eine einfallsreiche Regie und fanden die Form dieses Musicals simpel, im Vergleich zu Ihren Operninszenierungen.

Ich wollte eine möglichst einfache, direkte Ansprache finden, weil möglichst viele Menschen erreicht werden sollten, die ohnehin verschiedene Meinungen haben. Nichts sollte sich zwischen die Schauspieler und das Publikum schieben und nichts, was die Schauspieler sagen, gefiltert werden, und es hat viele überrascht, daß ich so unmittelbar inszeniert habe, wie es mir überhaupt möglich ist. Keine meiner Arbeiten ist der anderen ähnlich, der „Kaufmann von Venedig“ war nicht wie „Nixon in China“ oder „Cosi fan tutte“. Was sie aber verbindet, sind die Themen. Beim „Kaufmann von Venedig“ haben wir Rassismus als Folge wirtschaftlichen Drucks gezeigt, und das gleiche Thema verarbeiten wir jetzt im Musical.

Wie sind die Bedingungen in den USA, solche Produktionen zu entwickeln?

Was mich verrückt macht, ist, daß die Unterstützung für professionelle künstlerische Arbeit eingestellt wird, der nationale Etat läuft 1996 aus. Das ist schockierend, denn die Botschaft lautet: Du mußt dir als Künstler zusätzlich einen Brotjob besorgen. In Europa hingegen arbeitet eine riesige kulturelle Superstruktur zum Teil wie ein Postamt, nicht immer sehr wirkungsvoll, und die Ergebnisse sind oft auf mittelmäßigem Niveau, das man festschreibt. Das ist schmerzlich: Das deutsche Theater erinnert mich manchmal an Menschen, die mit ihrem Essen herumspielen, niemand ist wirklich hungrig, und deshalb veranstaltet man sonderbare Spielchen damit. An anderen Orten der Welt wäre das aber Nahrung für Verhungernde. Zuviel zu haben ist ebenso eine Herausforderung wie der extreme Mangel, und beides erfordert unbedingte Integrität. Da die Künste in Deutschland gefördert werden, müßten sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung besonders bewußt sein und sich nicht damit begnügen, eine Minderheit zu unterhalten oder die Praline zum Ende eines langen Tages zu servieren, zur Ablenkung. Kunst sollte im Zentrum sozialer Auseinandersetzung stehen und die Frage stellen, in was für einem Land wir leben wollen. Interview: Lore Kleinert

„I was looking at the ceiling and then I saw the sky“ von Peter Sellars, John Adams und June Jordan, bis 31. 10., 2.-8. 11., 10.-18. 11., am Thalia Theater, Hamburg.

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