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Der Tempel des roten Sandes

Der Assuanstaudamm ist der Tempel des neuen Ägypten. Die Götter geben das Wasser für die Felder der Bauern. Doch gleichzeitig nehmen sie ihnen auch den fruchtbaren Schlamm  ■ Aus Kairo Karim El-Gawhary

Alles Lebende ist aus Wasser gemacht“, heißt es auf einer Tafel am ersten Nil- Katarakt, der alten Stromschnelle aus Granit in der südägyptischen Stadt Assuan. Der Spruch, aus der koranischen Sure der Propheten entnommen, dürfte wohl keinen passenderen Platz gefunden haben als an dieser Stelle. Hier setzt der afrikanische Nil an, Ägypten sein kostbares Lebenselixier zu spenden, wie er das seit Tausenden von Jahren für die großen Pharaonenreiche getan hat.

Es ist auch die Stelle, die die Nachfahren der Pharaonen ausgewählt haben, um mit Hilfe der modernen Dammtechnik des 20. Jahrhunderts die jährlich wiederkehrenden Fluten des Nils zu zähmen. Aus mehr als 17 Millionen Kubikmeter Stein, vermischt mit 43 Millionen Kubikmetern Baumaterial, schufen siehier einen künstlichen Berg, in dem die Cheopspyramide von Giseh 17mal Platz finden würde. Der Assuanstaudamm, 1970 fertiggestellt, stellte das Herzstück eines stolzen neuen unabhängigen Ägypten dar. Der „Sadd El-Ali“, wie er auf arabisch genannt wird, sollte das Fundament einer optimistischen Entwicklungsstrategie werden. Er war der moderne Tempel einer neuen ägyptischen Zivilisation. „Wir haben gesagt, daß wir den Sadd El- Ali bauen werden, und wir haben ihn mit unseren eigenen Händen fertiggestellt, ihr Kolonialisten!“ verkündet dann auch stolz eines der Lieder das damals jedes ägyptisches Kind nachsingen konnte.

Tempel einer neuen ägyptischen Zivilisation

Der unmittelbare Vorteil des Projekts war offensichtlich: Mehr als 7.000 Jahre lang wurde der größte Teil der jährlichen Nilflut ungenutzt ins Mittelmeer gespült. Nun war es möglich, das ganze Jahr über zu bewässern und anstelle einer Ernte bis zu drei einzufahren. Die landwirtschaftliche Fläche vergrößerte sich um ein Viertel.

Aber wie jedes technische Großprojekt hat der Damm auch seine Schattenseiten. Womöglich war er sogar einer der Wendepunkte, an dem der Glaube an jeglichen technischen Sieg über die Natur das erste Mal erschüttert wurde.

Dreißig Jahre nach seinem Bau und tausend Kilometer weiter nördlich bekommen die Bauern in Ägyptens Brotkorb, dem Nildelta, die Folgen des Dammes zu spüren. Asafaz, ein Dorf im nördlichen Teil des Deltas, ist ein typisches Stück ländliches Ägypten, wie es sich zwischen den beiden Armen des Nils findet. Eine asphaltierte Hauptstraße, ein paar kleine Moscheen und gut hundert ein- bis zweistöckige Häuser sind umgeben von flachem Land, so weit das Auge blickt. Das Dorf liegt mitten in Reis- und Maisfeldern, und nur wenige Bäume, die sich vereinzelt entlang der Bewässerungskanäle befinden, spenden den hart arbeitenden Bauern Schatten für ihre wohlverdiente Mittagspause.

Der alte Bauer Hagg Ibrahim Balawi erinnert sich noch lebhaft an die Zeiten vor dem Damm. „Der Boden war so rot wie unsere Datteln.“ Der nahrhafte Schlamm, jährlich frei Haus von der Nilflut geliefert, erübrigte jeglichen Kunstdünger. Jetzt setzt er sich hinter dem Damm ab. Hagg Balawi behauptet, der rote Schlamm habe wesentlich bessere Resultate gebracht als die heute teuer erstandenen Chemikalien.

Kairos Spezialisten vom Wasserforschungszentrum des Bewässerungsministeriums, wie Mahmud Abu Zeid, spielen die Wertschätzung des Schlammes als Nostalgie herunter. Zwei Drittel endeten ohnehin im Mittelmeer, und die heutige Produktivität, notwendig, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren, habe Kunstdünger unverzichtbar gemacht, schreibt er.

Eine der schwerwiegendsten Folgen des Dammes für die Umwelt ist die zunehmende Versalzung der Böden. Mehr als 15 Prozent der Böden haben einen zu hohen Salzgehalt, schätzt Mohammed Abbas Rasheed, Chef der Abteilung für landwirtschaftliche Böden im Nationalen Forschungszentrum in Kairo. Andere Schätzungen sprechen gar von einem Drittel. Es ist eine Kombination zwischen schwer durchlässiger Lehmerde, wie sie überall im Niltal zu finden ist, und einem unzureichenden Feld-Entwässerungssystem, erklärt Rasheed. In anderen Worten: Zuviel Wasser steht auf den Feldern und steigert den Salzgehalt der Böden. Die Flut, die jährlich das angesammelte Salz in den Böden ausgespült hatte, existiert nicht mehr.

Obwohl schon während des Staudammbaus Studien einen steigenden Salzgehalt vorausgesagt hatten, dauerte es nach dessen Vollendung noch zehn Jahre, bis das Problem eines landesweiten Entwässerungssystems ernsthaft angegangen wurde. Seit 1975 wurde mehr als die Hälfte des Landes mit einem neuen Entwässerungssystem versorgt. Der Rest soll bis zum Jahr 2010 folgen, hofft Hassan Amer, ehemaliger Direktor des Entwässerungsinstituts, der heute das kanadisch finanzierte „Nil-Schutz- und Entwicklungsprojekt“ leitet. Eine gewaltige Herausforderung.

Das erklärt auch, daß nach Bekanntwerden des Problems zehn Jahre vergingen, bis für dessen Lösung etwas getan wurde. „Es gab andere Prioritäten, und ein adäquates Entwässerungssystem war damals ohne internationale Hilfe einfach nicht finanzierbar“, erklärt die ehemalige Mitarbeiterin des Bewässerungsministeriums und heutige Kairoer Umweltschützerin Amal Sabri. „Das Geld war nicht vorhanden, und es dauerte bis 1974, als Ägypten eine politische Wende in Richtung wirtschaftliche Liberalisierung einschlug, daß das Land wieder für internationale Geldgeber akzeptabel wurde und die Gelder für die neuen Projekte flossen.“ Zahllos sind dennoch die Klagen der Bauern. In Asafaz haben sie immer noch kein neues Entwässerungsystem. Die Feldfrüchte – sogar der relativ salzresistente Reis – wachsen nicht mehr in derselben Intensität. Die letzten Ernten waren kleinwüchsig und blaß, beschreiben Hagg Balawi und seine Bauernkollegen den steigenden Salzgehalt in ihren Böden.

Bewässerung bringt Versalzung und Mißernten

In Kairo beschuldigt Abbas Rasheed die Bauern, selbst für den hohen Salzgehalt und den steigenden Grundwasserspiegel mitverantwortlich zu sein. „Die Bauern“, sagt Rasheed, „überwässern die Felder, weil das Wasser kostenlos zur Verfügung gestellt wird.“ Ein Schuh, den sich Ibrahim Qischta, ein Bauer im nördlichen Delta- Dorf Daraksa, nicht anziehen will. „Wir Bauern wissen aus Erfahrung, wieviel Wasser wir für jede Feldfrucht benötigen. Zuviel Wasser bringt mein Getreide um“, entgegnet er.

„Der Bauer hat seine eigene Denkweise“, glaubt Umweltschützerin Amal Sabri. Sie gibt zu, daß es ein Problem der Überwässerung gibt, aber der Hauptgrund liegt für sie in der Unsicherheit der Bauern. Ein integriertes Netz von Bewässerungskanälen verteilt das Wasser überall im Niltal und im Delta. Die Zeiten, wann ein Kanal Wasser führt und wann nicht, werden zentral kontrolliert. „Wenn der Bauer das Gefühl hat, daß er das Wasser nicht genau in der Zeit bekommt, in der es seine Felder benötigen, dann wird er soviel wie möglich auf seine Felder leiten, wenn Wasser vorhanden ist“, erklärt Sabri. Das Problem stellt sich vor allem für die Bauern am Ende der Kette eines Netzes von Bewässerungskanälen, gibt auch Hassan Amer zu. „Niemand kann ernsthaft auf lokaler Ebene gegen Versalzung zur Tat schreiten, wenn es dort keine Sicherheit und Kontrolle über die Ressourcen gibt“, verdeutlicht Sabri. Es ist dieselbe Politik wirtschaftlicher Liberalisierung, die zwar die nötigen internationalen Gelder für ein Entwässerungssystem gebracht hat, die aber nun auch zur Unsicherheit der Bauern beiträgt.

Ein kürzlich erlassenenes neues Pachtgesetz, das die Pachthöhe für Land völlig freistellt, ist ebenso verantwortlich für die neue Unsicherheit wie die Tatsache, daß die Regierung vor wenigen Jahren die Subventionen für Kunstdünger gestrichen hat. Der Preis für Dünger ist heute viermal so hoch wie in der Zeit, als er noch subventioniert wurde, erzählen die Bauern von Asafaz. Der Übergang verlief für sie äußerst rauh: Vor dem Staudammbau benötigten sie überhaupt keinen Dünger, dann wurde dieser subventioniert, und wer heute nach Kunstdünger Ausschau hält, erhält diesen nur noch zu teuren Marktpreisen.

Aber nicht nur die Bauern im Delta bekommen die Umweltauswirkungen des Assuanstaudammes zu spüren. Ihre nördlichen Nachbarn an der Mittelmeerküste haben ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Ihr Land wird langsam vom Meer aufgefressen. Küstenerosion war bereits vor dem Bau des Hochdamms kein unbekanntes Phänomen in Ägypten. Die Küste begann zu schwinden, als die Briten zu Beginn des Jahrhunderts einen kleineren Damm in Assuan fertiggestellt hatten, mit dessen Hilfe die Nachflut gespeichert werden sollte. Das Problem eskalierte mit dem Hochdamm. Der fruchtbare Schlamm lagerte sich nun nur noch hinter dem Damm ab, und damit verlor die Küste ein wichtige Komponente für ihren Schutz. Die neuen Dämme drehten einen natürlichen Prozeß um, in dem die riesigen jährlich angeschwemmten Schlammassen die Küste vor Erosion bewahrt und die starken Meeresströmungen von der Küste abgelenkt hatten.

Dabei geht es nicht nur um ein paar wenige Zentimeter. Laut Dr. Alfi, dem Chef des Küstenschutz- Institutes in der Hafenstadt Alexandria, waren die jährlichen Verluste vor dem Start eines umfassenden Küstenschutzprogramms enorm. Im schlimmsten Fall, an der östlichen Seite der Stadt Rosetta, an der Mündung des westlichen Nilarmes gelegen, fraß das Meer nach dem Bau des Hochdammes jährlich 240 Meter Land. Rosettas alter Leuchtturm liegt heute mehrere Kilometer weit draußen im Meer. Inzwischen wurden Schutzeinrichtungen gebaut.

Gute fünfzig Kilometer entlang der Küste, westlich von Rosetta, sind die Ergebnisse der Küstenerosion immer noch offensichtlich. Dutzende von Strandvillen fielen im Sommerbadeort Baltim dem gefräßigen Meer zum Opfer. Deren Ruinen, heute vom Wasser umspült, brechen die hereinkommende Brandung. Das sei alles in den letzten drei Jahren passiert, bemerken einige der jährlich wiederkehrenden Besucher. „Demnächst wird ein weiterer Wellenbrecher hier gebaut“, verspricht Muhammad Hanuna, Chef der Badeortverwaltung. Das Problem wird bereits seit fünfzehn Jahren studiert. Vor fünf Jahren entstanden die ersten Wellenbrecher aus Beton vor der Küste des Ortes. Auch in diesem Fall war einfach kein Geld vorhanden, erklärt Hanuna.

Der 25jährige Abdel Satar Al- Zurbi ist einer der Arbeiter, die heute an den neuen Betonblocks zum Schutz des Badeortes arbeiten. „Die Alten erzählen uns, daß sie früher dort draußen, wo sich heute die Wellen brechen, Wassermelonen angebaut haben.“ Er deutet auf einen der Betonwellenbrecher gute hundert Meter vor der Küste.

Wenige Kilometer entfernt, im Fischerdorf El-Burg, erinnert sich der 48jährige Ali Kassas, ein örtlicher Schulinspektor, an die Tage, in denen er genau an der Stelle, wo heute die Wellen unermüdlich gegen den Betondeich schlagen, mit seinen Freunden gespielt hat. Vor sechs Jahren wurde der Deich gebaut, um das Dorf vor dem Schicksal zu bewahren, endgültig vom Meer verschluckt zu werden.

Ali Kassas Tour durch das Dorf endet an den östlichen Sanddünen. Einige Grabsteine ragen noch gespenstisch aus dem Sand, genau an der Stelle, wo sich das Meer in die Dünen gefressen hat. Der halbe Friedhof des Dorfes wurde vom Meer weggewaschen. Was übriggeblieben ist, wird heute durch eine Zementmauer vor den Wassermassen geschützt. „Gott sei Dank“, sagt Ali Kassas Vater und deutet von seinem Balkon in Richtung des halb entschwundenen Friedhofs, „wir haben unseren Vater ganz oben auf der Düne begraben, und da liegt er bis heute. Andere hatten weniger Glück.“

Erst der Schlamm, dann die Gräber

Die Nachfahren der hier Begrabenen, meist Fischer, haben ihre eigenen Probleme. Vor dem Dammbau hing das ganze Dorf von den Sardinen ab, die in den Monaten September bis November vor der Küste schwärmten. Die Sardinen verschwanden, nachdem der Nilschlamm, ihre Nahrungsbasis, das gleiche getan hatte. „Die wenigen, die übriggeblieben sind, sind winzig und schmecken nach nichts“, beschreibt Ali Kassas. Auch Al- Zurbi, der Arbeiter beim Küstenschutzprojekt, stammt aus einer ehemaligen Fischerfamilie. „Früher haben wir eine halbe Lastwagenladung pro Tag gefangen“, erinnert er sich. Vor fünf Jahren haben sie ihr Boot verkauft.

Trotz all der Umweltprobleme, die mit dem Assuanstaudamm entstanden sind, gibt es kaum jemanden im Land, der Ägyptens modernen Tempel verdammt. Die meisten Schwierigkeiten, das geben auch die Umweltschützer zu, können gelöst werden, wenn sie nur angemessen behandelt werden. Sollte es doch noch einen Damm- Kritiker geben, wird er von den meisten an die immer wieder gleiche Geschichte erinnert.

Anfang der achtziger Jahre fiel an den Wasserquellen des Nils in Äthiopien und der Sahelzone sieben aufeinanderfolgende Jahre lang kein Tropfen Regen. Die Nilflut wurde zu einem kleinen Rinnsal, und der Stausee hinter dem Assuanstaudamm fiel auf den tiefsten Punkt in seiner Geschichte. Ägypten war gezwungen, die überlebenswichtigen Reserven des Sees anzuzapfen. Die Medien des Landes sagten einen Wassernotstand voraus. Erst als der Regen in Afrika wieder begann, löste sich die brenzlige Situation buchstäblich in der letzten Sekunde auf.

Die alten Ägypter glaubten, daß der Nilgott Hapi in einer Höhle südlich von Assuan über die jährlichen Fluten bestimme. Wenn die Fluten kamen, feierten sie Freudenfeste zum Dank an Hapi. Aber wenn Hapi seine Fluten vermissen ließ, stürzte das ganze Land ins Unglück. „Wenn Du, Hapi, Deine Zeit verpaßt, versinken die Menschen im Elend, wenn Dein Wasser austrocknet, siechen die Menschen dahin, und Angst breitet sich zwischen den Herden aus“, heißt es in einer Inschrift im Temple Philae südlich von Assuan. Das ist eine Geschichte, die selbst die Bauern der Salzfelder von Asafaz oder die Fischer von El-Burg nie vergessen werden.

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