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Schenkst du mir 'ne Mark?

Geld schnorren, Treffpunkte aufsuchen, einen Schlafplatz organisieren – das sind die Themen, die zur Zeit das Leben eines Straßenkindes ausmachen  ■ Von Tanja Hamilton

Mit schmerzenden Gliedern und einem feuchten Gesicht ist Schoko* heute wach geworden. Um halb zwölf war das, als die Sonne durch die staubigen Fenster des Bauwagens knallte. Zwei der unzähligen Hunde vom Wagendorf lagen auf ihrem Bauch und schleckten ihr zur Begrüßung übers Gesicht. Völlig verpennt und „voll auf dem Abtörn“ von der gestrigen „Speed“-Dosis hat sie sich aus dem Bett gequält. Erst mal eine rauchen.

Eine halbe Stunde später sitzt sie in der S-Bahn und fährt zum „Haupti“, dem Berliner Hauptbahnhof. Mal gucken, was so los ist, und dann vielleicht genug Kohle für ein Frühstück schnorren. Schoko ist gerade mal fünfzehn. Seit vier Tagen ist sie in Berlin. Davor war sie in Hannover, Chemnitz und Dresden-Neustadt. Ihre Mutter in Gera hat Schoko seit Ende Mai nicht mehr gesehen, und sie legt auch nicht besonders viel Wert darauf. „Die merkt nicht, daß sie mein Leben total versaut“, sagt sie. „Ständig Streß wegen meinem Outfit und den Leuten, mit denen ich abhänge. Da hatte ich keinen Bock mehr drauf.“

Dabei sieht Schoko nicht viel anders aus andere Kids in ihrem Alter, und für einen Punk, wie sie sich bezeichnet, noch recht harmlos. Ihre Tarnjacke und die schwarze Jeans sind fast lupenrein sauber, die dunklen Haare streichholzkurz, am Mundwinkel prangt der obligatorische Ring. Nur wer genauer hinsieht, entdeckt die schwarzen Ränder unter den bis zur Hälfte runtergekauten Fingernägeln.

Für die Mutter allerdings war Schokos Aufmachung immer wieder Anlaß zu stundenlangen Auseinandersetzungen, in denen harte Worte fielen und doch nichts gesagt wurde. Warum ihre Mutter manchmal ausflippte und mit dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hand geriet, auf ihre Tochter einprügelte, kann oder will Schoko nicht sagen. Sie zuckt mit den Schultern. „Geredet haben wir darüber eigentlich nie“, meint sie. Auch ansonsten hatten die beiden sich wenig zu sagen. Es verbindet sie nichts.

Seit einem Jahr, seitdem sie vierzehn ist, rennt Schoko immer wieder von zu Hause weg, oft nur für wenige Wochen. Dann wird sie von der Polizei aufgegriffen und postwendend zu ihrer Mutter nach Hause befördert. Spätestens in ein paar Tagen ist sie wieder über alle Berge. Kommt sie in eine neue Stadt, geht sie zu den bekannten Schnorrplätzen und hört sich nach einer Bleibe für die Nacht um. Fast immer kommt sie ohne Probleme in einem besetzten Haus unter, oder, wie zur Zeit, in einem Bauwagendorf. Im Gegensatz zu vielen anderen mußte sie bisher nie in irgendwelchen leeren Abbruchhäusern pennen, in denen es „nach Pisse und Kotze stinkt“, wie sie sagt.

Am hinteren Bahnhofsausgang trifft sie heute auf Kirmes*, Rabe* und ein paar andere Schnorrer, deren Durchschnittsalter bei höchstens vierzehn liegt. Der Umgang ist hart, aber herzlich. Kirmes tritt Schoko ein paarmal in ihren „fetten Arsch“, und einer, der rumnölt, seine Jacke sähe „so ätzend neu“ aus, kriegt eine Ladung Sauerkraut, gemischt mit ein paar Handvoll Dreck, auf den Buckel geschmiert.

Wie fast alle Straßenkinder, die hier und am Alex oder am U-Bahnhof Friedrichstraße herumhängen, leben auch sie hauptsächlich vom Betteln. Mit den Strichern und Junkies vom Zoo wollen sie nichts zu tun haben. „Die sind für uns Abschaum“, meint Schoko. Doch noch viel schlimmer ist es, ein „Pseudo“ zu sein. Schoko erklärt: „Das sind die Wochenendpunks und die, die im Winter wieder zu Mama und Papa zurückrennen, weil's ihnen auf der Straße zu kalt wird.“ Und was will sie im Winter machen? „Weiß ich nicht. Dicke Pullis anziehen.“ Am liebsten würde sie wieder in die Schule gehen, aber auf keinen Fall in Gera. Doch dazu müßte die Mutter einwilligen, und die will, daß Schoko zurückkommt.

Die Schnorrerei verläuft heute schleppend. Von den meisten Vorbeilaufenden werden sie einfach ignoriert, manche halten eine gutgemeinte Moralpredigt, ein paar geben etwas. Manche, wie Schoko, schnorren nur solange, bis sie genug für eine Mahlzeit zusammenhaben. Andere, die „Hardcore- Schnorrer“, greifen am Tag schon mal bis zu 150 Mark ab, heißt es. Jeder von ihnen hat beim Betteln seinen eigenen Stil. Schoko setzt mehr auf Charme: „Hast du Lust, mir eine Mark zu schenken?“ säuselt sie. „Hab' selber kein Geld!“ kommt die mürrische Antwort. „Dann geh doch arbeiten“, empfiehlt Rabe.

Andere, wie Pan*, bevorzugen die brutale Überrumpelungstaktik. Zielstrebig peilt er einen verschüchtert wirkenden Jeanstyp mit Brille an. Er bleibt etwa zwei Zentimeter vor dessen Gesicht stehen und plärrt: „Kann ich mal einen Schluck von deiner Fanta haben?“ Wie auf Befehl streckt die Brille mit schreckensgeweiteten Augen die Dose von sich.

„Man entwickelt auf der Straße ein ganz schönes Selbstbewußtsein“, erzählt Schoko. „Und man lernt viel mehr fürs Leben als in der Schule. Man lernt mit Leuten umzugehen, mit sich selber umzugehen.“ Auch Zuschlagen hat sie auf der Straße gelernt. Zu dem üblichen „Fascho-Streß“, den es alle paar Wochen gibt, kommen die eindeutigen Angebote von Männern, die glauben, ein 15jähriges Straßenmädchen mit einer Tafel Schokolade ins Bett zu locken. Doch Angst hat Schoko keine. Sie ist groß und ziemlich kräftig und weiß, daß sie sich wehren kann. „Ich bin nicht gewalttätig, aber auch nicht pazifistisch“, sagt sie. „Wenn dir einer wirklich wehtut, dann kommt irgendwann der Punkt, da willst du nur noch Rache.“

Um zwei Uhr nachmittags holt sie sich ihre erste Mahlzeit: Pommes und eine Cola. Als Schoko wieder zurück zur Gruppe kommt, haut Pan sie nach einem Pennplatz an. „Soll ich dir bei uns was klarmachen?“ bietet sie sofort an. Sie ziehen zusammen los. Pan muß aber erst seine Gitarre abholen, die er am Tag zuvor einem Reisenden am Bahnhof geklaut hat. Er hat sie in der Nähe der Friedrichstraße versteckt. „Wenn du den „Place“ siehst, wo ich die verbuddelt habe – das ist das absolute Megaversteck!“ freut er sich.

In der S-Bahn lernen sich die beiden, die sich heute zum ersten Mal sehen, näher kennen. Die verbindende Brücke sind Schnorrgeschichten und Drogenerlebnisse. Plötzlich zieht Schoko eine Sicherheitsnadel aus ihrer Tasche und meint: „Hier, schenke ich dir.“ „Oh, danke, danke, vielen Dank“, sagt Pan und hält sie fest, als wäre sie ein kostbares Juwel. Er sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Er steckt sie sich durchs Ohrloch und greift in seine Jackentasche. „Hier, ich hab auch was für dich.“ Er drückt ihr drei Streichhölzer in die Hand. Sie guckt etwas verwirrt drein. „Die darfst du nur dann abbrennen, wenn es dir wirklich ganz, ganz dreckig geht und du dir was Gutes wünschst, okay?“ flüstert er. Schoko verspricht es ihm.

Das Megaversteck entpupppt sich als ein kleiner Bretterverschlag auf dem Hinterhof eines imposant aussehenden Backsteingebäudes. „Ohne Klampfe bin ich nur ein halber Mensch“, meint Pan und schmettert los. Ein trauriges Lied, das von Abschied und Trennung handelt, eine Eigenkomposition.

Plötzlich scheint irgendein Damm in ihm zu brechen und er fängt an zu reden und hört überhaupt nicht mehr auf: „Ich bin jetzt einundzwanzig, und seit ich dreizehn bin, lebe ich auf der Straße, aber ich will das nicht anders. Ich kann das nicht anders. Die Street, das ist mein Leben, hier habe ich keine Komplexe. Kennst du das, wenn du Hemmungen hast, mit Leuten zu reden? Auf der Straße habe ich das nicht, bei den Leuten fühle ich mich geborgen. Wie ein Säugling, der erst noch reden und denken lernen muß. Manchmal bin ich sehr traurig, aber eigentlich bin ich glücklich.“

Es ist fast 22 Uhr, als sie zurück in die Friedrichstraße biegen. „Das war eben nicht mein Stil“, sagt Pan, „das singe ich nur, damit die Leute Kohle schmeißen. Ich steh' ja mehr auf Punk.“ Seine geliebte Klampfe um den Hals gehängt, drischt er zur Demonstration in die Saiten. Der Text besteht aus den Strophen: „Motherfucker!“ und „Fuck your mother!“ Er rennt auf die Passanten zu und schreit ihnen den Song aus voller Kehle ins Gesicht. „Ey, das ist ja voll kraß, was du hier abziehst“ sagt Schoko, etwas peinlich berührt. Pan bleibt wie angewurzelt stehen und schaut sie an: „Das ist doch genau das, was die von mir erwarten. Dann sollen sie es auch kriegen!“

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

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