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Bosnien und darüber hinaus

■ Eine Vortragsreihe im Hamburger Institut für Sozialforschung beschäftigt sich mit der Ethnisierung von Politik

Lange Zeit herrschte allgemeine Unübersichtlichkeit, jetzt streiten im Grunde nur noch zwei Erklärungsmodelle miteinander. Die einen sagen, im momentan stillgestellten Bosnienkrieg habe sich der jahrhundertealte Haß ausgetobt, der zwischen den Völkern des Balkans seit jeher geherrscht habe und nach dem Auseinanderfallen des ordnungsstiftenden Dachstaates Jugoslawien wieder aufgeflammt sei. Und da der Haß so allgemein und so alt sei, sei es am besten, ganz die Finger vom Balkan zu lassen.

Die zweiten sagen, es handele sich bei den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien um einen serbischen Aggressionskrieg gegen die multikulturelle Republik Bosnien mit dem Ziel, alle Serben – und nur sie – unter dem Dach eines Staates Großserbien zu vereinen. Was sich nach dem zweiten Erklärungsmodell in Bosnien durchgesetzt hat, das ist also der Versuch einer Ethnisierung der Politik. Und was eine Niederlage erlitten hat, das ist das Konzept eines Vielvölkerstaates. Wenn dieses Modell stimmt – und es spricht mittlerweile mehr als einiges dafür –, dann hat in Bosnien der Versuch obsiegen können, die Gesellschaft auf ethnische Merkmale zu gründen. Was Konsequenzen hat: Eine Politik der Nichteinmischung beginnt fadenscheinig zu werden, und darüber hinaus gilt es, die Bedingungen zu analysieren, unter denen die Volkszugehörigkeit – und nur sie – als Kitt einer Gesellschaft aktualisiert werden kann. Die brutalen Begleitumstände, die mit einer solchen Aktualisierung einhergehen, dürften bekannt sein.

Diese Problemlage bezeichnet den Hintergrund einer Vortragsreihe, die heute abend im Hamburger Institut für Sozialforschung beginnt. „Ethnisierung der Politik – Politisierung der Ethnizität“, unter diesem Titel soll der – lange Zeit nur als träge zu bezeichnende – deutsche Diskurs angefeuert werden, indem Protagonisten der internationalen Debatte Gelegenheit gegeben wird, ihre Ansätze vorzustellen.

Der Amerikaner David Rieff eröffnet die Reihe heute abend. In seinem kürzlich erschienenen Buch Schlachthaus – Bosnien und das Versagen des Westens hat sich der Journalist als glühender, aber dennoch mit einem klaren Kopf ausgestatteter Vertreter der bosnischen Sache erwiesen (siehe taz vom 31. Oktober 1995). Der Bosnienkrieg ist für ihn im Kern ein von Serben begangener Völkermord an den bosnischen Muslimen, ein Völkermord, der für ihn vermeidbar gewesen wäre. Rieff zufolge hätte der Westen militärisch eingreifen müssen. Erhellend sind in dem Buch vor allem die Hinweise darauf, wie ethnische Säuberungen denn konkret vor sich gehen. Zwei Jahre lang hat Rieff die Ereignisse vor Ort verfolgt, und er hat sich seinen Blick nicht verstellen lassen.

In einem etwa monatlichen Rhythmus suchen dann fünf Vorträge das Thema analytisch zu vertiefen. Am 7. Dezember spricht der oppositionelle Belgrader Ethnologe Ivan Colovic über die Indienstnahme der Geschichte in dem Konflikt. Und am 11. Januar kommenden Jahres erweitert der britische Historiker Norman Davies den Blickwinkel auf die Neuordnung Europas nach dem Zusammenbruch des Ostblocks insgesamt. Olivier Mongin, Paul Parin und Francois Furet folgen.

Dirk Knipphals

Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36, 20 Uhr

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