: Das Glück ist nicht in Kasachstan
■ Dollars für Straßenmusik, sonntags Zugüberfälle. Russische Stipendiaten der Akademie der Künste zeigen ihre Filme
Ein Dreijähriger sackt vor Müdigkeit auf den Boden. Die Mutter schiebt Reisreste zusammen. Draußen torkelt eine kümmerliche Kuh durch den Staub. Sergeij Dvorzevoj hat in seinem Dokumentarfilm „Das Glück“ den Alltag der Nomaden in Kasachstan aufgezeichnet. Doch das Glück ist anderswo: Hier gibt es nichts mehr zu essen. Dvorzevoj und andere Filmemacher zeigen zur Zeit im Rahmen der Stipendiatenwerkstatt für russische Künstler in der Akademie der Künste ihre Filme. Seltene Gelegenheit, Aggregatzustände und Verflüssigungen im russischen Kino der Neunziger zu beobachten.
Die Belovs in Viktor Kosakovskijs gleichnamigem Dokumentarfilm leben, „wo der Fluß anfängt“. Der Bruder philosophiert am Küchentisch, die traurige Schwester spricht mit den Kühen. Sie können sich nicht leiden, getrennt leben können sie auch nicht. Im Vorprogramm läuft „Stjopa“, das Porträt einer 22jährigen Strafgefangenen, die nur zwölf Monate ihres Lebens in Freiheit verbrachte.
Vom Öffentlichen ins Private bewegt sich dffb-Student Calle Overweg, in „Fünf Moskauer Musikanten“. Die Parallelökonomie blüht. Alte Männer winken mit Würsten und Maiskolben. Sogar Witze erzählt man sich für Geld. Und die sehbehinderten Musiker, die früher für die Partei spielten, machen jetzt Straßenmusik. Sie hoffen auf den gelegentlichen Dollar im Geigenkasten und wollen immer zusammenbleiben. Sonst blitzt kaum Hoffnung aus den schiefen Augen.
Serjeij Ursulyaks Film „Russian Ragtime“ wirft einen Blick zurück in die Ära der Stagnation. Mischa träumt von Amerika. Doch auswandern läßt ihn der KGB erst, als er seine Freunde verrät. Leider stagniert oft auch die Handlung, und leider fallen sich am Schluß alle in Zeitlupe in die Arme.
Als lebendes sozialistisches Heldendenkmal poltert Stahlwerker Ignat durch Tomasz Tóts „Die Kinder der gußeisernen Götter“. Ganz hinten im Ural leben die Arbeiter wie auf einem Raumschiff. Jeden Moment kann das ächzende Werk hochgehen. Doch Ignat rettet das Kollektiv, auch wenn er dabei mal Feuer fängt. Abends nehmen die Männer einen tiefen Schluck vom Industriealkohol, dann gehen sie baden im Kühlwasser. Sonntags Zugüberfälle. Nur mit der schönen Arbeiterin Raika weiß Ignat nicht recht, was anfangen.
Mal parodiert Tót den Soz-Realismus, mal vergnügt er sich im Surrealen, und dann geht's wieder im folkloristischen Galopp über die Steppe. Als Ignat auch noch den Stärksten aus der Kohlenmine bezwingt, brät man sich am Hochofen ein Schaf. Seltsamer ist nur noch „Die hölzerne Kammer“, ein postapokalyptischer Tierfilm über Menschen und Wasserratten. Jörg Häntzschel
„Stjopa“ und „Die Belovs“, So., 5.11., 18 Uhr; „Das Glück“ und „Das Kreuz der Erfahrung“, ein Dokumentarfilm über ein Gefangenenlager in Kasachstan, Mo., 6.11., 20 Uhr; „Fünf Moskauer Musikanten“ u.a., Di., 7.11., 18 Uhr; „Die Kinder der gußeisernen Götter“, Mi., 8.11., 18 Uhr; „Die hölzerne Kammer“, Fr., 10.11., 18 Uhr. Regisseure und Mitwirkende sind anwesend. Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten
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