: Banane mit Fußnoten
Rock wird Philologie: „Peel Slowly And See“ heißt der erste Versuch einer historisch-kritischen Gesamtausgabe des Werks von Velvet Underground. Ein bohemistisches Modell im Längsschnitt, mit Andy Warhol am Rand ■ Von Diedrich Diederichsen
I
Rock scheint nur noch als Erinnerung die Gemüter zu bewegen. Ich denke, Rock ist endlich zu der Literaturgattung geworden, zu der seine Mittelklasse-Vertreter ihn immer machen wollten. Diese lebt zwar auch noch, aber ihre wichtigsten und zahlreichsten Werke sind Fälle für die Philologie. Die Mainstream-Presse bereitet sich auf das Auftauchen unbekannter Beatles- Aufnahmen vor, nur logisch, daß man sich in der Tageszeitung mit einer Velvet-Underground-CD- Box herumschlägt.
Der Tod Sterling Morrisons und eine neue Fünf-CD-Box mit teilweise unbekannten Songs, jede Menge unveröffentlichten Aufnahmen stellen die Frage neu: Was hatte und hat es eigentlich auf sich mit Velvet Underground? Warum hält eine kleine, aber entschlossene Minderheit von Fünfundzwanzig- bis Fünfzigjährigen an ihrem Mythos ebenso unbeirrbar lange fest wie sonst andere und größere Minderheiten nur an den Beatles, Stones, Grateful Dead, Dylan und Neil Young? Und wenn man an die taz einerseits und die Techno-Gegenwart von Musik andererseits denkt, müssen noch zwei Sätze fallen. Erstens: War diese Zeitung zumindest für eine lange Zeit das Organ derer, die vor einer Welt voller Probleme nicht davonlaufen wollten, sondern „was tun“, sangen Velvet Underground programmatisch: „There are problems in these times, but – hoo! – none of them are mine.“ Der Verfasser dieses Textes sieht sich synthetischerweise in einer Tradition, wo gerade dieser Satz als politisch, progressiv und nicht als eskapistisch gelesen werden soll.
Und zweitens heißt es im selben Song, „Beginning to See the Light“, noch programmatischer: „Wine in the morning / and breakfast at night“, für eine Boheme- Elite zelebrierend, was heute in der Rave-Welt für viele selbstverständlich ist.
II
In dieser Epoche von Kanonisierung und Historisierung stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit die Forderung nach markt- und copyrightunabhängigen, nachvollziehbaren „philologischen“ Editionskriterien. Die bislang einzige annähernd makellose „Werkausgabe“ waren die „Capitol Years“ der Beach Boys: vollständige Original-LPs, je zwei auf einer CD, soviel wie möglich Varianten zusätzlich, die nicht nach Kuriositäts- und Raritätsgründen ausgewählt wurden (hier hustet der Leadsänger), sondern nach möglichst relevanten Abweichungen („I Know There's an Answer“ mit dem komplett anderen Originaltext „Hang On To Your Ego“). Die Grenze auch dieser Edition markiert ihr Titel: Der Wechsel der Plattenfirma stoppt die Edition an der Jahrzehntwende zu den Siebzigern.
Bei Velvet Underground wären – außer „Loaded“ beim Atlantic- Sublabel Cotillion, aber die ist mit in der Box – alle je veröffentlichten Aufnahmen in der Hand desselben weltumspannenden Polygram- Konzerns (Verve, Polydor, Mercury, Phonogram) gewesen. Das Editionsprinzip scheint aber hier gewesen zu sein, sich an den vier zu Lebzeiten der Band erschienenen Studio-LPs zu orientieren und Live- („1969“, „Live at Max's Kansas City“) und posthume, aber offizielle LPs („V.U.“, „Another View“) genauso zu behandeln wie die unveröffentlichten Outtakes diverser Sessions.
Die ohne Lou Reed zustandegekommene, schwerst zugängliche Studio-LP „Squeeze“ wird in den ansonsten prächtigen Liner Notes mit der berechenbaren und bekannten, aber ungerechten Häme bedacht – Gerechtigkeit für Doug Yule! – und ebenso vernachlässigt wie Früchte der Reunion von vor zwei Jahren. Dafür sind dann „It Was a Pleasure Then“ und „Chelsea Girls“ von Nico als Ergänzungen zur ersten Studio-Langspielplatte aufgeführt. Grundsätzlich sind alle Session-Outtakes, Stücke anderer LPs und Varianten um je eine Studio-LP herum aufgebaut, und zwar dankenswerterweise so zahlreich, daß die CD knirscht – bis zu Laufzeiten von über 78 Minuten. Noch vor dem Anlegen nachvollziehbarer editorischer Prinzipien, die ja nicht zuletzt von dem Wunsch angetrieben sind, nicht alle paar Jahre eine neue Stuttgarter Ausgabe präsentiert zu bekommen oder am Ende gar mit Unternehmen Dietrich E. Sattlerschen Zuschnitts konfrontiert zu werden (um in der Metaphorik der Hölderlin-Philologie zu reden), steht die (digitale) Erhebung der Primärdaten. So war „White Light/ White Heat“ am Anfang der CD- Epoche eine der ersten klassisch gescheiterten digital abgemischten CD-Editionen eines Vinyl-Klassikers gewesen. Irgendein australischer Toningenieur hatte damals nach Kräften Rauschen und andere Nebengeräusche unterdrückt und so zerstört, was der geniale Produzent Tom Wilson damals für die Originalversion erstmals und mit voller Absicht die Filter hatte passieren lassen (das paßte zum „cleanen“ Negativ-Image der CD bei den meisten Rockisten).
Den 5 CDs von „Peel Slowly And See“ liegen längst fällige Digitaleinspielungen im Geiste des Originals zugrunde. Ebenso lobenswert ist es, die im „Closet- Mix“ passender kammermusikalisch abgemischte dritte LP mit teilweise immensem Detailgewinn (die Keyboards bei „The Murder Mystery“) vorzulegen und sich bei „Loaded“ nicht auf das veröffentlichte Werk, sondern auf die Mastertapes, die Ausgabe letzter Hand sozusagen, zu stützen: Das beschert uns dann die sensationelle ungekürzte Fassung von „Sweet Jane“, in deren neugewonnener letzter Minute kein Geringerer als Christoph Gurk die „Erfindung des Glam-Rock“ gehört haben wollte.
Unter den Outtakes überrascht eine unbekannte Cale/Reed-Komposition namens „Countess of Hongkong“, wunderschöne Velvet-Fassungen („Loaded“-Outtakes) von Reed-Solo-Songs („Satellite of Love“) und eine Drone-Session unter Beteiligung von Nico („Melody Laughter“) aus den Anfangstagen, wie man sie von diversen Bootlegs kennt.
Sach- und themenverwandte, aber nicht vollständige Extrakte aus „V.U.“, „Another View“ und „Max's Kansas City“ runden das Werk ab, dessen Clou allerdings CD Nummer eins ist: eine komplette Demo-Session aus Cales Apartment anno 65. Hier kann man hören, daß das Trio Cale- Reed-Morrison ohne weiteres auch als Dylan-Epigonen, Simon & Garfunkel mit einem dekadenten Stich oder gar als keltisch inspiriertes Hippie-Trio nicht in die Geschichte hätte eingehen können. „Venus in Furs“ und „Wrap Your Troubles in Dreams“ erscheinen gegen alle Credits klar als Cale- Songs. Das bislang unbekannte „Prominent Men“ zeigt Velvet Underground in der ungewohnten Rolle als Protestsänger mit klagender Harp. Und etwas quälende ungefähr zehn Takes von „All Tomorrows Parties“, die Lou Reed eisern gegen seine bereits etwas grifflahmen Begleiter durchsetzt, lassen keine Zweifel, daß diese 23jährigen sich vom folkig-klimprigen Greenwich-Village-Zeitgeschmack damals noch nicht sehr unterschieden.
Hört man dann die Singles-Fassung von „All Tomorrows Parties“ mit Pauken, Klavier, Nico und nicht mehr begleitenden, sondern aggressiven Lärm-Geschrängel von der E-Gitarre zu Beginn der zweiten CD, merkt man, daß den drei Jungen zwischen Juli 1965 und März 1966 mehr zugestoßen sein muß, als das Mädchen Nico kennengelernt zu haben.
III
In Andy Warhols Film „The Velvet Underground“ von 1966 sieht man das Ensemble in starrer Einstellung knapp 45 Minuten jammen. Dann beenden zwei von Nachbarn herbeigerufene Cops die Sitzung. Jetzt sieht man, wie sich alle Beteiligten zerstreuen, kurz noch verabreden oder nur verabschieden.
Selten waren Hierarchien auch gegen den fast unverständlichen Ton deutlicher in ein paar scheinbar zufälligen Doku-Bildern auszumachen. Der etwas sykophante Gerard Malanga versucht, freundliche Worte von den Stars Lou und Nico zu erhaschen, John Cale verschwindet still und souverän, Sterling und Mo sind die Musiker, also Clowns, die außerhalb der Machtkämpfe stehen. Nico geht mit Lou und muß sich aber noch um Sohn Ari kümmern. Warhol stelzt aufgeregt und amüsiert durch die Szenerie.
Es ist müßig, entscheiden zu wollen, ob Warhol persönlich, der Velvet Underground auf Tour begleitet und sich mindestens ein Jahr intensiv um die Band kümmerte, oder die einmaligen und eigenartigen Produktionsbedingungen der Factory ausschlaggebend waren: Velvet Underground gerieten im Jahre 1966 in ein Kräftefeld, das aus ihrer literarisch-dekadenten, fast schon zu spät avantgardistischen Neigung ein Programm gemacht hat, das die Band aus dem Pop-Kosmos ihrer Gegenwart (ganz in deren nach Höherem strebenden, aber dabei cool bleiben wollenden Sinne) herauskatapultierte, in einen bildkünstlerisch-literarischen, der erst Jahre bis Jahrzehnte später von der Popkultur richtig eingefangen werden konnte. Dessen – dann doch wieder – Pop-Version in Form von Velvet Underground steht seitdem für dessen gloriose, historische Momente.
Wenn Warhol für von allen klassischen Kunstbegriffen wegstrebende Kunst stand, und zwar für alle daran beteiligten sozialen, politischen, ökonomischen und zynischen Energien, kamen Velvet aus der Gegenrichtung, ohne zu wissen wohin. Rock-Explosionen waren noch nicht codiert, daß Lärm und Feedback und Drogen zu Sakramenten einer kommunitären, anti-intellektuellen, protosozialistischen West-Coast-Ideologie werden sollte, war noch nicht abzusehen. „New York Art“ mit Speed, Karriere, Konkurrenz, Sprache und Intellekt hatte Anfang 66 noch genauso gute Karten.
Daß Velvet nicht Jefferson Airplanes Rolle übernahmen, war genausowenig abzusehen wie Warhols Scheitern beim Versuch, Hollywood zu übernehmen. Erst gegen Ende dieses Jahres, als die erste LP – sie sollte im März 67 erscheinen – schon fertig aufgenommen war und Nico die Band schon wieder verlassen hatte, erschien zum Beispiel „Freak Out“ von den Mothers of Invention und „Revolver“ von den Beatles, von „Sgt. Pepper“ ganz zu schweigen. Keine Hendrix-LP war damals in den USA erhältlich, nichts von Jefferson Airplane, Grateful Dead, MC 5, den Doors, Captain Beefheart und den Stooges. Kein Lärm, keine Feedbackorgie war verfügbar, als man sich bei VU in dem langen Instrumental-Coda von „European Son (to Delmore Schwartz)“ die Kante gab.
Der Mut zu solchen Schritten kam nicht aus einem allseits spürbaren musikalischen Aufbruch, sondern unmittelbar aus der Factory-Situation, aus der Mischung aus Geschäftigkeit, Überdrehtheit und ständiger Bestätigung jeder noch so, zunächst womöglich leeren, Produktivität. Warhol selber mochte weder von Reeds literarischen Ambitionen noch von John Cales Interesse an Avantgarde-Kunst und -Musik im Umfeld von John Cage und La Monte Young viel gewußt haben (er kannte allerdings diese Leute und wußte um ihre „Wichtigkeit“), er förderte nur mit sicherem Instinkt die Energie ihres Abweichlertums und schloß sie mit der Aura der vielleicht künstlerisch und musikalisch gar nicht so passenden Nico kurz. Durchaus nicht, weil er sich da ein wohlkomponiertes Dream Team versprach, sondern weil ihm das reine Addieren irgendwelcher Energien immer schon vielversprechend erschien.
Darin hatte er ein ebenso klares, künstlerisches wie menschenführerisch-ausbeuterisches Prinzip, das in den Walls of Noise der Velvet Undergorund ebenso hörbar wird wie der Style-Begriff der Factory bei den liedhafteren Arbeiten mit Glockenspiel und Nico-Gesang.
IV
Die beteiligten Talente haben sich in die verschiedensten Richtungen entwickelt. Die beiden eigenständig funktionsfähigen Figuren Cale und Reed haben beide versucht, das möglicherweise als eng oder zwanghaft empfundene Zusammengeworfensein der Factory- Tage abzuschütteln und sich als Solo-Künstler möglichst autonom zu gebärden.
Lou Reed tat das nie besonders gut, je näher sein Erzähltalent neben irgendwelchen anderen Genies und/oder Zusammenhängen gedeiht, desto besser für ihn. John Cale kehrte, obwohl meist uneingeladen, auch auf dieser Box – etwa mit einem überraschenden Gastauftritt als Keyboarder für eine „Loaded“-Outtake-Version von „Ocean“ – immer wieder zu ihm zurück (was diesen immer wieder verunsicherte).
Die eine Frau, Nico, konnte bis zu ihrem Tod nie wirklich unabhängig sein, so sehr sie auch erratisch und nur für sich existierend wirkte – sie war das klassiche Opfer eines beziehungsweise mehrerer Svengalis. Die andere, Mo Tucker, schafft es seit nun auch einem guten Jahrzehnt als Musikerin, sich nicht nur alleine durchzuschlagen, sondern auch an alle für ihre Geschichte wesentlichen Zusammenhänge (Half Japanese, Shotgun Rationale, Velvet Underground, Appreciation Society) sich anzudocken und diverse Leute in Lohn und Brot zu setzen. Darunter sogar Sterling Morrison, der dennoch als einziger all die Jahre nicht wirklich da war.
Ihn, der sich an den Literatur-Departments von Südstaaten-Universitäten rumtrieb, gab es öffentlich erst wieder, als es auch Velvet Underground für kurze Zeit wieder gab. Im August dieses Jahres ist er gestorben.
Velvet Underground: „Peel Slowly And See“ (Polydor)
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