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Ein Punkt in der Mitte

■ Dr. Albrecht Giese über sein Hamburger Institut, in dem Legastheniker nach der Davis-Methode behandelt werden: „Wir sind nur die Hebamme“

Das erste europäische Institut, das Legastheniker nach der „Davis-Methode“ behandelt, wurde jetzt von Dr. Albrecht Giese in Hamburg eröffnet. Der studierte Psychologe wurde durch ein Radio-Interview auf Ronald Davis und dessen Legasthenie-Therapie aufmerksam. Zwölf Monate lernte und arbeitete er am Davis-Institut in Kalifornien. Giese hat 17 Jahre in den USA gelebt, als Dozent gearbeitet und als Privatlehrer Kinder mit Lernschwierigkeiten betreut.

taz: Was ist das Besondere an der Methode von Ronald Davis?

Albrecht Giese: Das Frappierende ist, daß uns zum ersten Mal ein Legastheniker selbst etwas über Legasthenie erzählt. Bisher waren das immer Neurologen, Psychotherapeuten oder Pädagogen. Ron hatte gemerkt, daß seine Legasthenie Schwankungen unterlag, je nachdem, womit er sich beschäftigte. Wenn Legasthenie ein organischer Schaden am Gehirn wäre, dachte er, dürfte es solche Schwankungen nicht geben. Drei Tage und drei Nächte lang hat er mit seiner eigenen Wahrnehmung experimentiert, bis er plötzlich das Gefühl hatte, völlig entspannt zu sein und sich als Wahrnehmender nicht in seinem Körper, sondern an einem Punkt etwas oberhalb zu befinden. Vielleicht war das Erlebnis reine Phantasie – aber als Phantasie funktioniert es. Ron konnte auf einmal ganze Bücher lesen.

Auf welche Weise vermitteln Sie Ihren Klienten diese „Phantasie“?

Wir haben festgestellt, daß Legastheniker überhaupt keine Schwierigkeiten haben sich vorzustellen, daß sie an verschiedenen Punkten sind. Das ist einfach ein Gefühl, das sie haben. Wir fordern sie auf, sich an einen Punkt in der Mitte zu begeben. Das kann an der Stirn, auf dem Kopf, im Kopf oder etwas oberhalb sein. Dann wird die Wahrnehmung sehr klar und bringt sofort einen Gewinn, was das Lesen und die Rechtschreibung angeht.

Ist das nicht einfach eine Konzentrationsübung?

Die Kinder kriegen immer gesagt: Konzentrier dich! Das klingt streng. Und ist sogar falsch. Ron Davis' Methode hilft einem Legastheniker, ganz ruhig wahrzunehmen. Das ist nicht dasselbe wie Konzentrieren – eher das Gegenteil. Konzentration erfordert eine Willensanstrengung. Wir streben eine tiefe Entspannung an. Der Klient lernt dann selbst – wir sind nur die „Hebamme“ – wie er funktioniert und was er daran ändern kann.

Wie lange braucht ein Legastheniker, um das zu lernen?

Die Beratung umfaßt eine volle Woche. Das Orientieren nimmt in den meisten Fällen höchstens eine Stunde in Anspruch. In der restlichen Zeit erfolgt die Anwendung dieser orientierten Verfassung auf die Dinge, mit denen der Legastheniker Schwierigkeiten hat: einzelne Buchstaben, ganze Wörter, Lesen, Schreiben und Diktat. Es kann sein, daß ein Kind in dieser Woche nur das Alphabet zu beherrschen lernt. Andere haben am Ende der Woche sämtliche Wortarten intus und vergessen sie nie wieder.

Das Institut bietet Einzelberatung für Kinder und Erwachsene an. Werden Sie auch mit anderen Einrichtungen zusammenarbeiten?

Wir empfinden uns nicht als Konkurrenzunternehmen zu anderen Hilfeeinrichtungen, sondern bieten einen weiteren neuen Ansatz, mit dem wir gute Erfahrungen gemacht haben. Wir wollen nicht nur mit einzelnen Klienten arbeiten, sondern das auch in die Schulen einbringen. Ein solches Pilotprojekt gibt es bereits in Amerika. Dort wird in den unteren Klassen mit allen Kindern gearbeitet. Diejenigen, die Legastheniker hätten werden können, lernen dann wie alle anderen. Das wäre auch in Deutschland denkbar. An einem Gymnasium in Bremen gibt es schon erste Ansätze.

Solange sich solche Projekte an Schulen nicht durchsetzen, müssen die Klienten die private Beratung bezahlen. Wie teuer ist sie? Übernimmt die Krankenkasse die Kosten?

Ich glaube nicht, daß die Krankenkassen die Beratung finanzieren. In den USA ist das nicht so, für Deutschland werden wir das erkunden. Die Beratungswoche wird zwischen 2000 und 3000 Mark kosten, das hängt ein bißchen von unseren eigenen Unkosten ab. Wir wollen zum Beispiel spezielle Unterrichtsmittel erarbeiten, unter anderem ein Wörterbuch, in dem jedes Wort mit ganz einfachen Wörtern erklärt und mit einem Bild versehen wird, ohne dabei selbst Legasthenie auszulösen. So etwas gibt es bislang nicht.

Die Davis-Methode ist hierzulande eher unbekannt. Rechnen Sie damit, daß Ihr Hamburger Institut gut ausgelastet sein wird – auch außerhalb der Schulferien?

Es gibt jetzt schon viele Anmeldungen; bis Ende des Jahres werden wir ohne weiteres arbeiten können. Zum Teil sind es erwachsene Klienten. Aber auch Kinder werden außerhalb der Ferienzeit angemeldet. Privatschulen machen dabei überhaupt keine Probleme. Außerdem sind die Eltern von Legasthenikern da recht kreativ. Denn sie sitzen oft schon lange auf heißen Kohlen und warten auf diese Möglichkeit.

Das klingt alles sehr begeistert und erfolgreich. Gibt es überhaupt keine negativen Reaktionen auf ihre Arbeit?

Hier in Hamburg gibt es noch keine Reaktionen, wir fangen ja gerade erst an. In Amerika hat es nie negative Reaktionen gegeben. Der große Durchbruch hat aber lange auf sich warten lassen, da die Sache kaum bekannt war. Es gelang erst mit der Veröffentlichung des Buches. Mit den Klienten und mit der Methode haben wir nie Mißerfolge gehabt. Die wichtigste Voraussetzung ist aber, daß der Klient motiviert ist. Er muß die Arbeit selbst tun, nachdem wir ihm gezeigt haben wie.

Fragen: Stefanie Winter

Für Menschen, die an der Davis-Methode interessiert sind, ist Dr. Albrecht Giese unter der Telefonnummer 280 45 76 zu erreichen.

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