Tausende Seelenlichter für Rabin

Vor allem junge Leute gehen in Israel auf die Straßen und zeigen ihre Trauer um den Regierungschef. Daß der Mord von einem Israeli begangen wurde, trifft das nationale Selbstverständnis  ■ Aus Jerusalem Karim El-Gawhary

Fast eine Million Israelis, ein Viertel der israelischen Bevölkerung, erwiesen am zweiten Tag nach der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin dem vor der Knesset Aufgebahrten ihren letzten Respekt. Das israelische Parlament, vor dem der Tote für 24 Stunden aufgebahrt wurde, Rabins Haus in Tel Aviv, die Stelle, an der er erschossen wurde und seine Residenz in Jerusalem wurden in den letzten Tagen zu regelrechten Pilgerstätten.

Tausende von Nerot Neschama, sogenannten Seelenlichtern, wurden Tag und Nacht abgebrannt. Vor allem junge Leute fanden sich zusammen. Oft sangen sie in Gruppen wehmütige Volkslieder. Tausende säumten auch den Weg der Prozession, als Rabin von der Kneset zu seiner Grabstätte auf dem Jerusalemer Herzl-Berg gebracht wurde. Von der eigentlichen Beerdigungszeremonie blieb die Öffentlichkeit allerdings aus Sicherheitsgründen weitgehend ausgeschlossen.

Nach einem ersten Tag der Sprachlosigkeit nahmen viele Israelis die Ermordung Rabins zum Anlaß, über ihre eigene Gesellschaft nachzudenken. Die Weltsicht von „wir Israelis“ und „die Araber“ scheint einen schweren Schlag erhalten zu haben. „Wäre der Mörder ein Araber gewesen, wäre es ein ehrenhafter Tod gewesen“, faßt Ruth Dram, eine der Trauernden vor dem aufgebahrten Sarg Rabins, mit Tränen in den Augen dieses Gefühl zusammen. Es wäre einfacher gewesen, damit umzugehen. „Jetzt müssen wir über uns selbst nachdenken.“

„Ich habe sofort gedacht, es war ein Araber, als ich dann die Details hörte, war ich zutiefst geschockt“, erzählt der Student Shacat Potrok. Der 22jährige ist zu der Beerdigung extra aus dem zwei Stunden entfernten Bir Sheva gekommen. Für die Älteren, wie den pensionierten Seemann Yehuda Toor, einem Aktivisten in der „Peace Now“- Bewegung aus Haifa, geht es nicht nur um den Tod Rabins, sondern „um den endgültigen Beweis, wie tief die israelische Gesellschaft geteilt ist.“

„Ich hasse nicht den Mann, der dies getan hat, sondern die Atmosphäre, die uns in diese Lage gebracht hat“, stimmt die 42jährige Simina Asarar zu. Viele Israelis hätten geglaubt, daß Gewalt nur von den Palästinensern ausgehe und die israelische Gesellschaft relativ sicher sei, analysiert der Politikprofessor Dori Gold dieses Gefühl der letzten Tage. Der Mordanschlag habe diese Unschuld gebrochen.

Manche der Menschen vor dem Sarg fragten sich nun auch, warum all diese Trauernden nicht schon früher zur Unterstützung für Rabins Politik auf die Straße gegangen sind. „Erst vor wenigen Wochen wurde er ausgebuht“, sagt die 26jährige Dozentin für jüdische Geschichte, Sigalit Tirosh. Die Witwe Rabins, Leah Rabin, war am Abend nach dem Mord vor Rabins Haus in Tel Aviv erschienen, um zu den Trauernden zu sprechen, und hatte sich ähnlich bitter geäußert. „Warum seid ihr nicht früher gekommen, als die Gegner der Regierung zahlreiche Demonstrationen vor diesem Haus abhielten“, fragte sie die Anwesenden.

Es sind aber vor allem die jüngeren Israelis, die Rabin ihren letzten Respekt erwiesen. Das Durchschnittsalter der in der Öffentlichkeit Trauernden war nicht älter als 20 Jahre. Noch nie habe er „einen Tod erfahren, der ihm so nahe ging“, erklärt der 24jährige Dan Tsafir dieses Phänomen. „Ich spüre es in meinem Magen. Ich fühle mich, als hätte ich keinen Vater und keine Leitfigur mehr.“

Rabin sei die Hoffnung für die Jungen gewesen, meint auch Eli Cohen. „Danke Rabin“, heißt es auf dem handgemalten Poster, daß er hochhält. „Rabin sprach mit seinen Initiativen vor allem die jüngere Generation an. Wir haben genug davon, ständig in der Armee zu sein, wir wollen einfach ganz normal unser Leben leben“, fügt er hinzu.

Ob Rabins Nachfolger Schimon Peres allerdings von dieser Stimmung profitieren kann, ist nicht sicher. „Ich hätte auf jeden Fall Rabin gewählt, bei Peres bin ich mir nicht mehr so sicher. Er ist ein Heuchler, und man kann ihm nicht trauen“, beschreibt eine junge Frau diese Stimmung. Ähnlich äußerten sich zahlreiche andere der Trauernden. Die meisten glauben allerdings auch, daß die Reflektion über den Tod Rabin positive Effekte für den Friedensprozeß bringen wird.

Der Einfluß Peres auf die israelische Gesellschaft ist nun das große Fragezeichen im zukünftigen Friedensprozeß. Politikprofessor Dori Gold glaubt, daß Peres den begonnenen Prozeß mit den Palästinensern erfolgreich fortsetzen kann. Vorausgesetzt, der Prozeß wird nicht durch größere Gewaltakte unterbrochen. Über die Verhandlungen mit Syrien ist er skeptischer. Das israelische Militär habe dem Soldaten Rabin vertraut und hätte jeden von ihm abgeschlossenen Vertrag über einen Rückzug aus dem Golan für sicher angesehen, beschreibt Gold die besondere Rolle Rabins in den Verhandlungen mit Syrien. Bei Peres sei das anders.

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Tel Aviv (dpa/rtr) – Nicht überall in Israel wird Jitzhak Rabin betrauert. Gestern ersuchten die Direktoren einiger Schulen das Erziehungsministerium um Hilfe: Wie sollen Lehrer reagieren, wenn Schüler Befriedigung über den Mord äußern? Der israelische Rundfunk berichtete gestern, Schulen in vielen Teilen des Landes, darunter staatliche und religiöse, hätten berichtet, junge Leute hätten die Ermordung Rabins gefeiert.

Gestern morgen beschäftigten sich in Israel alle Schulklassen mit Leben und Werk des ermordeten Regierungschefs und behandelten die Frage, welche Konsequenzen politische Morde auf das gesellschaftliche Leben des Landes haben.

Unterdessen bekräftigte der Attentäter, Jigal Amir, sein Geständnis. Er habe die Tat „nicht begangen, um den Friedensprozeß zu stoppen, weil es kein Konzept wie einen Friedensprozeß gibt, sondern es sich um einen Kriegsprozeß handelt“, sagte er gestern vor dem Untersuchungsrichter. Jemanden zu töten, der jüdisches Land dem Feind überlasse, sei nach jüdischem Recht erlaubt. Der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet prüft, ob Amir wirklich Einzeltäter ist oder ob er Auftraggeber im rechtsradikalen Spektrum hatte. Amir wiederholte gestern: „Ich habe allein gehandelt – aber vielleicht mit Gott.“