: Arbeit an der langen Leine
Beim Teleworking reisen Gedanken statt Denker: Für den menschlichen Kontakt zwischen Angestellten gibt es wöchentliche Parties ■ Von Wolfgang Fili
Dezentrale Arbeit und „virtuelle Büros“ liegen im Trend. Fraglich bleibt, ob sich die Arbeit am Schirm menschengerecht organisieren läßt oder genauer: ohne daß sie soziale Krüppel produziert. Denn wenn die menschliche Komponente fehlt, so die Erfahrung, vernetzt arbeitender Unternehmen, rechnet sich Teleworking nicht.
Telearbeit, also der Netz- und Online-Verbund geographisch getrennter Unternehmensteile, ist nach den Prognosen renommierter Marktforscher unweigerlich im Kommen. Und mit ihr das virtuelle Büro. Zu deutsch: das via Datenfernleitung vernetzte Arbeiten räumlich getrennter Unternehmensteile und Mitarbeiter.
So hat die Münchner Dataquest in einer Umfrage bei 300 westeuropäischen Unternehmen herausgefunden, daß die Investitionen für den Umstieg vom isolierten zum vernetzten Rechner allein zwischen 1989 und 1994 um drei Milliarden auf 4,7 Milliarden US-Dollar gestiegen waren. Rund sieben von zehn Personalcomputern arbeiten laut der Studie bereits im Netz. Und über ISDN-Anschlüsse zur schnellen Übertragung der Daten verfügten 1994 bereits 42 Prozent der Unternehmen. 1996, so die Aussichten, werden es mindestens 59 Prozent sein – eine Entwicklung, die die Telekommunikationsanbieter mit aggressiven Werbekampagnen nur noch beschleunigen dürften.
Die räumliche Trennung im virtuellen Büro ist kein Hindernis. Man arbeitet wie gehabt, tauscht Dokumente und Informationen aus, legt Ansätze und Lösungen vor, diskutiert Strategien und verwirft sie wieder – jedoch über den Datendienst Compuserve oder das Internet. Das Unternehmen arbeitet standortunabhängig im Netz. Bereits ein Drittel der von Dataquest befragten Betriebe gab an, derart per Datenfernleitung eingebundene Telearbeiter und Außendienstler zu beschäftigen. Und bis 1996, so die Prognose, werde sich diese Zahl sogar verdoppeln.
Der Berufsverkehr wird zurückgehen
Jürgen Olschewski, Geschäftsführer der Düsseldorfer Hard- und Softwarefirma ICL und selbst Dienstherr von knapp hundert Telearbeitern, ist überzeugt: „Physische Mobilität wird ersetzt durch die technologische Überbrückung von Zeit und Raum.“ Also Kommunikation und Interaktion per Text, Grafik, Sprache oder Video im Televerkehr. Für seine ICL heißt das: Ein Spezialist arbeitet in München, ein anderer in Hamburg und der nächste in Stuttgart. Die drei tüfteln vernetzt am selben Auftrag und entwickeln Systemlösungen für Fertigungsbetriebe, Supermärkte, Handel oder Handwerk. Dienstreisen, zumindest die projektbezogenen, sind dabei nurmehr die Ausnahme. „Das schont die Umwelt“, freut sich Olschewski, „und obendrein auch noch zu vernünftigen Kosten.“ Der Produktivität und Arbeitsqualität sei die Telearbeit zudem in keiner Weise abträglich.
In der Tat geht auch die wissenschaftliche Forschung davon aus, daß der Weg über den Datenhighway statt der Asphaltpiste geldwerten Nutzen bringt: Bis zum Jahr 2005 nämlich, stellte eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung Anfang des Jahres fest, könnte sich der Anteil des Geschäfts- und Berufsverkehrs am gesamten Aufkommen durch den Einsatz von Telekommunikation von derzeit rund 34 auf 28 Prozent reduzieren lassen.
Daß solcherart ökowirtschaftliche Vorteile auch ihren sozialen Preis haben, ist weniger offensichtlich. Arbeiten Teleworker doch mehr oder minder selbstbestimmt und – von einer Kernanwesenheit einmal abgesehen – auch zeitautonom. Wer wünschte sich das nicht? Dennoch: MitarbeiterInnen, die hauptsächlich via Datenfernleitung interagieren und in erster Linie die Ergebnisse ihrer Mühen abgleichen, fehlt eine entscheidende Erfahrung: Sie können sich weder sehen noch riechen, weder der Zusammenarbeit förderliche Sympathien entwickeln, noch sich über die auf dem Schreibtisch verteilten Kaffeeflecken ihres Gegenübers aufregen. Sie nehmen sich nicht mehr ganzheitlich wahr, sondern nurmehr auf die Funktion als Informationsgeber oder -nehmer reduziert. Was hier fehlt, ist der „human touch“. „Wo die Menschen bislang zusammenkamen und soziale Kontakte pflegten“, weiß Olschewski heute, „zeichnet sich der Trend zur Vereinsamung ab.“
Viele Führungsfrauen wollen telearbeiten
ICL bietet bereits seit 1993 Telearbeit an, und vor allem jüngere Frauen in qualifizierten und leitenden Positionen fragen sie nach. Kinder zu haben bedeutet für sie dann nicht mehr den bislang häufigen Karriereknick. Das Gros der ICL-Teleworker kommt freilich noch aus Vertrieb und Kundendienst, den Abteilungen also, in denen klassischerweise an der langen Leine gearbeitet wird. Rund ein Viertel der 350 Mitarbeiter hängt derzeit an der Datenleitung. Tendenz: konstinuierlich steigend.
Störpotential in Sachen Teleworking ordnen Studien der ISDN-Forschungskommission des Landes Nordrhein-Westfalen in erster Linie dem Middle- und Upper-Management zu: Hier, so das Fazit der Untersuchungen, müsse umgedacht werden, seien ziel- und ergebnisorientierte Kontrollprinzipien zu erlernen statt zuerst den Machterhalt im Auge zu haben.
Praktiker fordern einen institutionalisierten, weit über die virtuellen Kontakte hinausreichenden Austausch der Mitarbeiter. „Human touch“ soll nicht hinter der Mattscheibe haltmachen, sondern sicht- und fühlbar sein. Dies erinnert an die Versuche holländischer Hersteller, ihren bis zur Geschmacksfreiheit mutierten Ganzjahrestomaten wieder Duft und Charakter anzuzüchten.
Beim Unternehmen ICL finden in der rheinischen Zentrale und anderen Geschäftsstellen in Deutschland seit einiger Zeit sogenannte „get together“-Parties statt. Das sind wöchentliche Treffen, die den persönlichen Austausch der Belegschaft fördern sollen. Ist nämlich die unternehmensinterne Kommunikation stimmig, so stimmt auch der Eindruck, den die Company für Dritte hermacht.
Hatte man in der ersten Online- Euphorie eine Reihe von Dienstreisen radikal als überflüssig gestrichen, scheint sich der ICLsche Partyservice bewährt zu haben. Die Mitarbeiter, stellt Chef Olschewski befriedigt fest, zeigten neuen Schwung in ihrem Engagement und auch wieder mehr Initiative. Der kalkulierte Umweg über Asphaltpiste und Deutsche Bahnen scheint sich also zu rechnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen