: Helden: Nomaden Von Claudia Kohlhase
Mein Freund G. wohnt zwischen den Stühlen, als wäre dort Platz oder eine freundlichere Welt. Er fährt da sogar Rennrad, also von Stuhl zu Stuhl, und wenn er bei mir ankommt, schämt er sich, daß er schwitzt. Dann zieht er seine Schuhe vor der Haustüre aus, weil er fürchtet, er habe auch Schweißfüße, und damit ich das nicht merke. Ich glaube gar nicht, daß er Schweißfüße hat, aber ich will ihm weder das eine noch das andere sagen. Mein Freund G. ist übrigens ein Maler, ein richtig großer, aber das ist im Grunde egal, weil nachher womöglich alle denken, er sei nur deshalb groß, weil er keinen Platz hat, um sich auszubreiten.
Mein Freund G. kommt immer um jeden Preis zu spät, damit es so aussieht, als käme er irgendwoher. Dann tut er so, als rastete er kurz, damit es aussieht, als müsse er irgendwohin. Es gibt Wochen, da weiß niemand, wo er ist, und es bilden sich Telefonketten. Aber ich weiß seit kurzem, wo er in solchen Fällen ist: Er ist hinter die Stühle getreten, vermutlich sogar bis hinter die Zeit, damit er bei uns in Erinnerung und also überhaupt irgendwo bleibt. Wenn er Glück hat, findet er hinter den Stühlen einen stillen Tisch, und dort malt er. Wahrscheinlich ist er nicht wirklich ein Nomade, und es gibt auch manchmal unbesetzte Plätze, wo er längerfristig wohnt. Aber dann stehen seine Schuhe komischerweise auch vor der Türe, obwohl außer ihm niemand da ist.
Wenn er bei mir ist und so tut, als käme er en passant vorbei und müßte gleich wieder gehen, dann reden wir circa vier Stunden. Wir reden übrigens oft über Türen und Räume, und manchmal treffen wir uns absichtlich in Lokalen, wo man seine Schuhe ausziehen kann. Das sind Lokale, die sind weit draußen vor der Stadt, aber er hat ja ein Rennrad. Wenn es ihm schlecht geht, redet er mir gut zu, damit niemand etwas merkt und er auch nicht. Danach gehen wir am Fluß spazieren oder unter Bäumen.
Einmal, es ist noch keine drei Monate her, da war der Hund verlorengegangen. Das halbe Dorf durchkämmte die Wälder, aber G. und ich gingen nur spazieren. Das heißt, ich ging spazieren, und G. sah sich um, wie er es immer tut, weil er sich ja auch vorsehen muß, wo immer er ist. Dabei kannte er Leo gar nicht. Aber dann kamen wir in diesen einen Wald, wo tief unten der Bach fließt, und wir gingen und sprachen über schwarze Vierecke, zu bunte Pilze und andere Farben und übers Sehen, wirklich, und mitten in einem Satz sagte G., da ist der Hund. Ich sah aber niemand, ich sah nur Baumstämme über Baumstämmen und fahles Laub und eben diesen Bach. Aber auf einmal sah ich im Wasser einen Baumstamm, der hatte Augen und war der Hund. Nur noch Augen und war eigentlich schon tot. Ich weiß nicht, was dann geschah, aber danach stand G. im Wasser, und wir hievten das riesige Tier die Böschung hoch. Von oben donnerten Tonnen von Regen, von unten starb fast der Hund. Natürlich holten wir auch Hilfe und Menschen kamen mit dem Auto, und später lag Leo schon wieder in Tüchern vor dem Kamin und fing an zu leben. Auch saßen bald alle wieder, nachdem sie durcheinandergelaufen waren und die Tierarztnummer und den Schnaps gesucht hatten. Bloß vor der Türe standen ein paar Schuhe, als dürften sie nicht reinkommen. Aber vielleicht wollten sie auch gar nicht.
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