piwik no script img

Das PortraitEin Nichtideologe

■ Ernest Gellner

Als Ernest Gellner einmal in seinem King's College der Universität Cambridge zu einem Vortrag eintraf, kam er nur bis zum Eingangsportal: Der Türsteher verwechselte ihn mit einem Stadtstreicher und schmiß ihn hinaus. Ein anderes Mal soll Gellner ein durchaus ernstgemeintes Angebot der Nato abgelehnt haben, vor ihren Generälen ein Referat über „Moralisches Rückgrat“ zu halten. Viele Anekdoten dieser Art ranken sich um den Sozialanthropologen Gellner, der jetzt im Alter von 69 Jahren gestorben ist.

Das Erzählen von Geschichten über Gellner fällt um so leichter, als dieser Wissenschaftler sich jeglicher Kategorisierung entzieht. 1925 in Paris geboren, bis zum Zweiten Weltkrieg in Prag aufgewachsen und später Professor an britischen Universitäten – die geistige Ernest Gellner, verstorbener KulturwissenschaftlerFoto: Archiv

Heimat des tschechischen Juden englischer Sprache läßt sich genausowenig eingrenzen wie sein intellektueller Horizont. Seine erste Buchveröffentlichung befaßte sich mit Sprachphilosophie – vor seinem Tod beschäftigte er sich mit den Vorbereitungen für einen internationalen Orientalismus-Kongreß. Dazwischen stritt er sich mit Oxforder Philosophen und arabischen Intellektuellen, schrieb Bücher über marokkanische Berber und sowjetische Wissenschaftler. Schließlich prägte er in seinen über vierzig Jahren Lehrtätigkeit in London und Cambridge eine Generation von Ethnologen. Am meisten lag dem wegen seines Humors allseits geschätzten Gellner daran, die Überzeugung zu vermitteln, daß eine Beschreibung der Welt ohne Ideologien möglich ist. Zugleich wandte er sich gegen postmodernen Kulturrelativismus, den er als intellektuelle Faulheit und Infantilität geißelte – mit zunehmendem Alter immer heftiger. Immer wieder beschäftigte er sich mit Problemen der Nationenbildung und der gesellschaftlichen Evolution. Den neuen Nationalismus in Europa und den islamischen Fundamentalismus in der arabischen Welt sah er als unterschiedliche Wege im Übergang vom Agrar- zum Industriestaat.

1993 verließ Gellner Cambridge und ging zurück nach Prag, um an der vom ungarischen Millionär George Soros neu gegründeten Zentraleuropäischen Universität zu lehren. Hier konzentrierte er sich darauf, Parallelen zwischen den Systemumstürzen von 1945 und 1989 zu untersuchen. Und hier starb er ganz unerwartet am vergangenen Sonntag – an einem Herzinfarkt beim Teetrinken. Dominic Johnson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen