Friedensstifter Milošević?

Der serbische Präsident, der an den Verhandlungen in Dayton teilnimmt, ist in die Massenmorde in Bosnien-Herzegowina verwickelt  ■ Von Roy Gutman

Kurz nach Kriegsbeginn in Ostbosnien schloß die jugoslawische Armee das an der Drina liegende Zvornik ein und bereitete sich auf den Angriff vor. Daraufhin rief der Direktor des städtischen Krankenhauses die serbische Führung an, um zu erreichen, daß seine Einrichtung verschont bleiben würde.

Kaum hatte der Arzt seine Bitte vorgebracht, als am anderen Ende Željko Rasnjatović den Hörer an sich riß. „Für Muslime ist die Frist, sich zu ergeben, verstrichen“, sagte der Anführer der Freiwilligenmiliz „Die Tiger“. Rasnjatović, besser bekannt als Arkan, ist ein international gesuchter Bankräuber und enger Freund des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević. „Wir werden euch mit allen uns zur Verfügung stehenden Waffen bombardieren“, sagte Arkan.

Minuten später begann die Bundesarmee mit dem Bombardement, Heckenschützen eröffneten das Feuer auf Zivilisten, und Arkan rückte mit seinen Truppen in die Stadt vor. Nach Aussagen von Zeugen, die von der US-amerikanischen Regierung und vom österreichischen Boltzmann-Institut für Menschenrechte befragt worden waren, zogen die Soldaten mit Listen von Haus zu Haus, wo sie führende Muslime ausraubten und ermordeten. Sie schnitten ihren Opfern die Kehlen durch, strangulierten oder erschossen sie.

Das war am 9. April 1992, also noch in einer frühen Phase des Krieges in Bosnien-Herzegowina. Jetzt hofft die Clinton-Administration, die von den USA vermittelten Friedensverhandlungen zum Abschluß zu bringen. Bei den Gesprächen in Dayton, Ohio zählt sie auf Milošević, um die bosnischen Serben zu größeren Zugeständnissen zu zwingen. Der serbische Präsident weist jedoch jede Verantwortung für Arkan und seine Truppen zurück. Diplomaten und hohen UNO-Funktionären gegenüber behauptet er, die Bundesarmee hätte keine Rolle beim Angriff auf Zvornik gespielt.

Der Angriff auf Zvornik reicht für eine Anklage aus

Aber die einjährige Recherche der Zeitung Newsday brachte ans Licht, daß Milošević selbst ein Netz von Gesetzen und Dekreten geschaffen hatte, um die Bundesarmee, aber auch paramilitärische Gruppen wie die „Tiger“ vollständig zu kontrollieren. Nach Ansicht von Experten überträgt diese Tatsache Milošević und seiner Regierung formaljuristisch die Verantwortung für jeden Schritt Arkans. Sie wirft damit Fragen nach der Rolle des serbischen Präsidenten als Friedensstifter in Dayton auf.

Als Beweismittel würde der Angriff auf Zvornik ausreichen, um Milošević als kommandierenden Verantwortlichen nach den Gesetzen seines Landes anzuklagen, sagt der Strafrechtler Cherif Bassiouni, der die UN-Expertenkommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina leitet. Die Gesetze und Erlasse, die die Frage juristischer Verantwortlichkeiten für die Vorgänge klären, machen eine wasserdichte Anklage gegen den serbischen Präsidenten vor dem UN- Kriegsverbrechertribunal in Den Haag möglich, so Bassiouni.

Dreieinhalb Jahre nach Zvornik sind Arkan und andere paramilitärische Einheiten immer noch in Bosnien aktiv. Am 19. Oktober dieses Jahres berichtete John Shatluck, ein führender Beamter des US-amerikanischen Außenministeriums, daß Arkan mit anderen Milizen in Norbosnien Anfang Oktober möglicherweise 2.000 bis 3.000 muslimische Männer und Jugendliche ermordet habe. Dem Sprecher des US-Außenministerium Nicholas Burns zufolge teilte Milošević US-Unterhändler Richard Holbrooke, dem Organisator der Friedenskonferenz in Dayton, Ohio mit, daß er „diese Aktivitäten nicht unterstütze. Sollten ihm Indizien dafür bekannt werden, werde er versuchen, seinen Einfluß geltend zu machen, um Arkan zu stoppen.“

„Wir haben keine direkten Hinweise auf eine Verbindung zwischen Milošević und Arkan“, sagte Burns weiter. „Wir gehen aber davon aus, daß die serbische Regierung Einfluß auf einige, wenn nicht viele dieser paramilitärischen Einheiten hat.“

Newsday hat zwei entscheidende geheime Dokumente erhalten, die sich mit der militärischen Rolle Jugoslawiens zum Zeitpunkt des Angriffs auf Zvornik befassen: die 1987 erlassene militärische Doktrin über den Umgang mit Ausnahmezuständen und die Ausführungsbestimmung des jugoslawischen Präsidentschaftsrates von 1989. Zusammen mit einer Reihe von Ermächtigungserlassen und Erklärungen aus den Jahren 1991 und 1992 bildet dieses Gesetzeswerk das juristische Konstrukt für die serbische Besetzung von etwa 70 Prozent des bosnischen Territoriums und das Töten von rund 200.000 muslimischen und kroatischen Zivilisten.

So erlaubt ein Dekret von 1989 zivilen Behörden in „Notstandssituationen“, einzelne Gebiete zu isolieren, Einheiten von Spezialmilizen für nicht näher definierte besondere Sicherheitseinsätze auszubilden und auszurüsten sowie den „obligatorischen Aufenthalt bestimmter Personen an einem bestimmten Ort“ anzuordnen. Der von Milošević (mit den Stimmen Serbiens, Kosovos, Montenegros und der Wojwodina) politisch kontrollierte jugoslawische Präsidentschaftsrat hat niemals formal einen Ausnahmezustand verhängt, setzte aber am 3. Oktober 1991 einen vergleichbaren „Zustand andauernder Kriegsbedrohung“ in Kraft. Am 22. Mai, nachdem die jugoslawische Armee ihre Hauptoffensive beendet und ihren Rückzug angekündigt hatte, machte er das De-facto-Kriegsrecht allerdings wieder rückgängig.

Am Tag vor Arkans Angriff erweiterte das jugoslawische Parlament seine Kontrolle, indem es Regionen in Kroatien oder Bosnien, die von Serben gehalten wurden, unter jugoslawisches Recht stellte. Die paramilitärischen Milizen gerieten somit schon vor Kriegsbeginn in Bosnien unter Miloševićs direkte oder indirekte Kontrolle. Im Juli 1991 erlaubte Serbien seinen Territorialeinheiten (eine seit 1968 bestehende parallele militärische Struktur von Reservisten; d.Red.) die Bildung von Freiwilligenverbänden, die während des gesamten Krieges sowohl in Kroatien als auch in Bosnien kämpften. Ein General der Regierungsarmee kommandierte diese Truppen und koppelte ihre Aktionen eng an die der jugoslawischen Armee. Vor kurzem beanspruchte Arkan, ein Kommandeur in der Territorialeinheiten zu sein, was ihn unter die direkte Kontrolle Miloševićs stellen würde. Belgrader Reportern sagte er im September, die „Tiger“ seien „eine Brigade für spezielle Einsätze der serbischen Armee“, die außerhalb einer offiziellen jugoslawischen Militärbasis im serbisch besetzten Kroatien operiere.

Milošević spricht selten über seine Methoden, noch weniger über seine Entscheidung, eine der größten europäischen Landstreitkräfte dazu zu benutzen, auf den Trümmern des multinationalen Jugoslawien ein „Großserbien“ zu schaffen. Im Januar 1991 allerdings kamen seine Äußerungen seinen Absichten am nächsten. Damals bewegten sich Kroatien und Slowenien auf eine Sezession zu. Milošević signalisierte seine Bereitschaft zum Krieg. Das serbische Volk, verkündete er, „will in einem Staat leben“. Jugoslawien zu zerteilen und das serbische Volk zu zwingen, in verschiedenen Staaten zu leben, „ist von unserem Standpunkt aus unakzeptabel, ich betone, es kommt nicht in Frage“. Als sich Slowenien und Kroatien im Juni 1991 abspalteten, griff die Regierungsarmee an.

Slowenien war gut vorbereitet und schlug die Armee innerhalb von zehn Tagen zurück. In Kroatien, wo in der Krajina eine bedeutende Minderheit von Serben lebte, nutzten die jugoslawischen Truppen ihre überwältigende waffentechnische Überlegenheit. Mit Hilfe der serbischen Territorialeinheiten und serbischer „Freiwilligenverbände“, die mordeten und plünderten, bis sie ganze Regionen von Kroaten „gesäubert“ hatten, besetzte die Armee bis zum Januar 1992 etwa dreißig Prozent des Landes.

Bosnien erklärte seine Unabhängigkeit im März 1992 und wurde im Monat darauf international anerkannt. Die jugoslawische Armee zog mit Truppen und Ausrüstung, die sie soeben aus Kroatien und Slowenien abgezogen hatte, erneut in den Krieg.

Der Bezirk von Zvornik – einer Volkszählung von 1991 zufolge lebten dort vor dem Krieg 81.000 Menschen, 59 Prozent von ihnen Muslime – stellte für die jugoslawische Armee einen strategischen Brückenkopf dar, um Männer und Material nach Bosnien zu senden. Die beiden bedeutendsten paramilitärischen Gruppen, die „Tiger“ unter Arkan und die Tschetniks des serbischen Politikers Vojislav Šešelj, erreichten das Gebiet in den Wochen vor dem Angriff, während die Armee ihre schweren Waffen in Position brachte.

Der Studie des österreichischen Boltzmann-Instituts zufolge dauerte das Bombardement vom 8. April 1992 sechs Stunden und gab den paramilitärischen Kräften Deckung, um die Stadt zu plündern und ihr Regime von Mord und Terror zu errichten.

Am Tag darauf fuhr der UN- Abgesandte José Maria Mendiluce von Belgrad aus nach Zvornik. „Es gab schweren Artilleriebeschuß von der serbischen Seite und viele Scharfschützen“, erinnerte er sich jüngst in einem Interview. Mendiluce sah „viele Leichen von Frauen, Kindern und Alten“, die von „irregulären“ Truppen auf „Lastwagen geworfen wurden“. Soldaten, „durchgeknallt und betrunken, plünderten Häuser und luden die Beute auf Lastwagen“.

Gleichzeitig berichteten Belgrader Medien, daß Tausende muslimischer Kämpfer in der mittelalterlichen Festung bei Kulagrad versuchten, die Stadt zu verteidigen. Aber die österreichische Studie ermittelte, daß es sich nur um einige Dutzend Kämpfer mit leichten Waffen gehandelt habe. Die Festung fiel nach zwanzig Tagen, ihre Verteidiger flohen mit Hunderten von Zivilisten aus nahe gelegenen Dörfern. Währenddessen war Zvornik von Arkan und anderen Gruppen geplündert worden, Dutzende Zivilisten wurden getötet, Hunderte in Lager gebracht. Milošević indes gab vor, von den Vorgängen nicht das geringste gewußt zu haben, so Ralph Johnson, ein ranghoher Beamter des US-amerikanischen Außenministeriums. Am 19. April wandte sich Johnson an Milošević, um sich darüber zu beschweren, daß „paramilitärische Kräfte“ die Drina in Richtung Bosnien überschritten. Milošević entgegnete, er sei dafür nicht verantwortlich, „aber wenn derlei geschehe, würde er versuchen, es zu stoppen“, so Johnson gegenüber Newsday.

In der Tat spielt Milošević die Bedeutung der paramilitärischen Verbände stets herunter. In einem Interview mit dem Time Magazine vom Juli bezeichnete er die Milizen als „Banditen und Mörder“ und machte geltend, daß „alle jene paramilitärischen Formationen in diesem Krieg absolut marginal waren“. Weiter sagte er, es gebe höchstens „einige tausend“ Mann in diesen Truppen. Die UN-Expertenkommission hingegen hat mehr als 20.000 „paramilitärische“ Soldaten ausgemacht, die in Bosnien als Sturmtruppen während der Invasion für die Sache Serbiens kämpften. Die Einheiten wurden mit Hilfe einer Rekrutierungskampagne der staatlich kontrollierten serbischen Medien gebildet.

Kleine Hinweise zum Töten im staatlichen Fernsehen

Arkan ist einer der Eigentümer des Fußballvereins Roter Stern Belgrad, Besitzer eines Cafés in der Hauptstadt und Hauptkonzessionär in den ostkroatischen Ölfeldern, die Miloševićs Armee 1991 einnahm. Zudem rühmt er sich einer langen Geschichte enger Verbindungen mit der jugoslawischen Geheimpolizei. Er sammelte arbeitslose Hooligans und Kriminelle in seiner Truppe, die er ab Herbst 1991 in Armee-Einrichtungen ausbildete. Um Truppen auszuheben, hat er sogar einen Film produzieren lassen, der im staatlichen Fernsehen lief. Dort sah man ihn während des Krieges in Kroatien in Uniform neben Panzern der jugoslawischen Armee posieren. Er gab kleine Hinweise zum Töten und zu „ethnischen Säuberungen“ zum besten.

Arkans Tiger erhielten weitgehende und anhaltende Unterstützung der serbischen Polizei und der Bundesarmee. Milan Milovojević zufolge, dem Führer eines Verbandes paramilitärischer Truppen in Belgrad, wurden Freiwillige mit Flugzeugen, Hubschraubern und Fahrzeugen der Armee an die Front transportiert. Milovojević, Oberst der jugoslawischen Armee, spricht von 800 Freiwilligen in seiner Einheit, unter ihnen 300 šešeljtreue serbische Tschetniks. In einem Interview sagte er, daß einige der Freiwilligen nun „des Völkermordes beschuldigt werden“. Die Freiwilligen seien jedoch „für die Zwecke der Bundesarmee geeignet“ gewesen, da sie ihnen „die Arbeit abgenommen“ hätten. Übersetzung: Andreas Baum

Roy Gutman, geboren 1944, war Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuter in Wien, Belgrad, London und Washington. Seit 1982 arbeitet er für „Newsday“ und ist seit 1990 Europa-Korrespondent. Für seine Reportagen über Bosnien wurde er 1993 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Gutman ist Autor des Buches „Augenzeuge des Völkermordes“, das im Steidl-Verlag erschienen ist.