: Bürger, schützt eure Anlagen! Von Mathias Greffrath
„Die Zeit, da man über die Sozialdemokratie noch höhnen konnte, ist vorbei, und Anklagen, sie habe sich selbst verloren, sind an sie nicht mehr zu adressieren.“
Claus Koch, Neue
Gesellschaft, Mai 1993
Parteien sind wie Arten. Sie altern nicht, sie transformieren sich, oder sie sterben aus. Das kann Jahrzehnte dauern. Die SPD ist keinesfalls schon in der letzten Krise. Sie regiert, sie stagniert, das Elend kann noch lange dauern.
Ergraut und ewig jung klagt Johano Strasser im Fernsehen „Visionen“ ein: Die SPD habe dem Idealismus der Jungen nichts mehr zu bieten. Und der Ortsverein Hannover-Zoo, der noch unermüdlich für gemeindenahe Psychiatrie, Kraft-Wärme-Kopplung und das Landestheater kämpft, hat gerade zum wichtigsten Projekt erklärt, „herauszufinden, welcher Art eigentlich die Inhalte sind, um derentwillen wir in dieser Partei arbeiten“.
Den frischen Geschäftsführer Müntefering machen solche Fragen nervös. Deshalb ließ er eine Annonce der Grünen aus der Parteitagsnummer des Vorwärts entfernen. „Wir bieten Ihrer Zukunft ein Zuhause“ hieß der Slogan. Ohne eigene, kräftige Zukunftsversprechen an ländliche Jungarbeiter und mobile, mehrsprachige Großstadt-Singles wird aber die alte Juso-Generation bald zum Aussterben allein sein. Immer konnte die SPD den nächsten Schritt – und war er zum höhnen klein – mit der Würde des Historischen und den Weihen der Kontinuität ausstatten. Ohne das Versprechen einer Zukunft gibt es keine Sozialdemokratie. „SPD deutlich über fünf Prozent“ – noch der taz-Titel nach der Berlin-Wahl war eher Ausdruck des Mitleidens als des Mithassens. Das Ende der SPD als Gestaltungskraft, so schwant allen, wäre auch das Ende der europäischen politischen Kultur. Was die SPD nicht hinkriegt, das packt die Gesellschaft als ganze nicht: den Laden zusammenzuhalten.
Die SPD weiß einmal mehr nicht, welchen Laden sie eigentlich meint. In der Zeit berauscht sich Peter Glotz erneut an den bekannt dubiosen Zahlen über die bevorstehende weltmarktsynchrone Interaktivierung aller Lebensbereiche, bis ihm der rosadigitale Zukunftsschaum vorm Mund schwebt. Kein Wort von Arbeitslosigkeit. Ein paar Seiten weiter kümmert sich gutkeynesianisch Herbert Ehrenberg um die alten Klassengenossen. Für sozialdemokratische „Modernität“ gebe es nur eine Meßlatte: Beschäftigungswirksamkeit.
Eine Sozialdemokratie, die nicht an der Forderung „Arbeit für alle“ als Basis der Gerechtigkeit festhält, verliert ihre Konturen. Vollbeschäftigung aber ließ sich auf nationalen Arbeitsmärkten denken, die jedoch gibt es nicht mehr. Die neuen weltmarktgängigen, hochwertproduzierenden Mittelschichten; die klassischen Arbeiter und Angestellten; die Ausgegrenzten, Billiglohnbezieher, Sozialhilfeempfänger – sie bilden, so hat es Robert Reich, der amerikanische Arbeitsminister gezeigt („The Work of Nations“), drei volkswirtschaftliche Kreisläufe, die sich immer weniger zur Nation fügen. Mit ihnen kann man nicht eine Partei machen, jedenfalls keine Interessenpartei.
Dazu das andere: Weil die SPD regiert, auf allen Ebenen in den Staat verwickelt ist, wird sie von Unvereinbarkeiten blockiert. Sie kann nicht einmal gestalten, wo sie nicht im Großen umverteilen müßte, sie ist nicht mehr fähig, die vielen kleinen Kulturrevolutionen in Vereinen und Kommunen, die ja täglich stattfinden, zu einem großen Versprechen zusammenschießen zu lassen. Arbeitsplätze durch 20 Prozent mehr Lehrer bei 20 Prozent weniger Gehalt – ging nur in Brandenburg. Senioren in der ehrenamtlichen Parkpflege – geht nur in Frankfurt. Und so weiter.
Wie könnte der Befreiungsschlag aussehen? „Die sich selbst als Sozialdemokraten noch unterscheiden wollen, müßten wieder lernen, das Wort Kapitalismus zu buchstabieren“, schreibt Claus Koch. Da hebt mein Lieblingsabgeordneter schon zum Klagen an: „Ich krieg hier sofort eins in die Fresse, wenn ich von der neuerlichen Entfesselung des Kapitals rede.“ Viele dächten so, aber sie hätten Angst vor der Mediokratie und den frohlockenden Liberalen.
Dabei geht es nur darum, daß die SPD nur in der Verteidigung von Gesellschaft, und das heißt in der Gestaltungskraft des Staates gegen den globalen Kapitalismus, noch Identität finden kann. Nur so ist sie unterscheidbar. „A Future For Socialism“ titelt der erzliberale Economist, ganz ohne Fragezeichen. Wer, wenn nicht die Sozialdemokratie, könne noch für Schulen, allgemeine Berufsbildung, Bibliotheken, Theater, öffentliche Ordnung und menschliches Sterben sorgen? Was, wenn nicht dies, ist die Stärke des Eurokapitalismus? Womit, wenn nicht mit diesen Stärken, können wir hoffen, auf dem Weltmarkt mit neuen Ideen zu bestehen? Dies europäische kulturelle Gefüge wird von der Liberalisierungs- und Privatisierungswelle bedroht. Das spüren alle Bürger, generationen- und gruppenübergreifend, es bedroht bald mehr als Lohneinbußen.
Eine SPD, die auf die Verdoppelung der Lehrer statt auf die Verhundertfachung der Kanäle setzte, auf die Schule als Schule der Nation und nicht auf die Abteilung „Geistige Orientierung“ der Bertelsmann-Stiftung; die nicht den ökologischen Spielraum kommunaler Energieversorger weggäbe, sondern wirtschaftliche öffentliche Betriebe herstellte, frei von Versorgungsfällen aus den eigenen Reihen, eine SPD als Partei des öffentlichen Reichtums – das ist nicht der einzige, aber ein guter Weg, alle drei Drittel dieser Gesellschaft zu erreichen. Auch die Weltmarkttauglichen haben ein Interesse daran, daß der Kapitalismus den European Way of Life nicht schleift, daß Wohnen, Kinderkriegen, Bildung, Nachbarschaft anderen Gesetzen als denen des Marktes gehorchen. Hier ist die Kampflinie der Sozialdemokratie. Gibt sie die auf, wird sie ihren Namen behalten, aber „das Sozialdemokratische“ wird sich ein anderes Gehäuse suchen. „Zukunftsstaat“ – so hieß das schöne alte Wort der alten Sozialdemokratie. Die war nie revolutionär. Sie wollte ein Gemeinwesen, das Heimat ist für die Mobilen und die Seßhaften, die Beweglichen und die Beschränkten. „Volksheim“ hieß das im Norden. Das war mehr als die jetzt in Mode kommende kommunitaristische, depolitisierte kleine Einheit. Der Ortsverein verband urbi et orbi. Er war Politik. Warum sollte die Sozialdemokratie etwas Neues, Kleineres erfinden?
Die aktiven Mütter im Ortsverein Hannover-Zoo reden nicht von Sozial-, sondern von „Wohlstandsmißbrauch“ und fragen: „Wieso soll man nicht mehr Sozialismus sagen?“ Es soll nicht an Worten liegen: „Bürger, schützt eure Anlagen!“, umfassend gedacht, könnte da ja reichen. Weiterer Hohn über die Symptome Scharping, Schröder, Lafontaine sind dann, das hat Claus Koch schon vor zwei Jahren erkannt, nur Zeitverlust. Und auch das platt Normative solcher Aufforderungen hat er schon klug kommentiert. Das sei eben sozialdemokratisch: „Keiner Problemlage so weit auf den Grund zu gehen, daß man nicht am Ende, sei es noch so schwach, ein ,Lösungsangebot‘ machen kann.“
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