: Nietzsche, der Touristenmagnet
Im Oberengadin läßt sich gut Ski fahren oder wandernd sinnieren: auf den Spuren Nietzsches. „Hier ist gut leben“, schwärmte er und besuchte regelmäßig die Ortschaft Sils-Maria im Kampf gegen Migräne und Magenweh ■ Von Johannes Winter
Die Talstation Furtschellas kennt keine Warteschlangen, wie sie allüberall in den Alpen zur Winterszeit wie buntscheckige Lindwürmer sich vor Liften und Bergbahnen ringeln. Der Silvaplanasee nebenan liegt unter einer dicken Schicht aus Eis und Schnee. Er ist ein Glied in der Seenkette des Oberengadin zwischen St. Moritz und Maloja. Dazwischen das Dörfchen Sils-Maria – und jeden Morgen die neue Freiheit, ob Aufbruch zum Rausch des Rasens über Pisten oder zum Glück des Gleitens auf Loipen über die Seenplatte. Die Nordflanke des Corvatsch- Massivs mit ihrem Subzentrum Furtschellas bietet zwischen 3.300 und 1.800 Meter Höhe nicht nur 13 Seilbahnen, Gondeln und Lifte, sondern auch 27 Abfahrten und Pisten, ob Lejins und Crap Nair oder Rabgiusa und Chüderun – Ortsnamen aus dem Rhätoromanischen, dem Rumantsch, wie die vierte Landessprache der Eidgenossen heißt.
Das Ziel jeder Schußfahrt ist zugleich Anschlußstelle für den nächsten Lift, so daß die Eintönigkeit des Rauf-Runter auf ein und derselben Strecke einem Pistenspringen im Zickzack gewichen ist, das auch Fortbewegungen in der Horizontalen ermöglicht. Wer die Vertikalen und ihre Schwierigkeitsgrade zwischen „schwierig“ und „leicht“ satt hat und vom Ski alpin zum Langlauf umsteigt, vom Schwingen zum Skaten gar, findet auf den zugefrorenen Seen vor Sils-Maria wahre Autobahnen- Loipen vor. Oder wandert im Schnee.
Letztere Art menschlicher Mobilität nähert sich unmerklich der sanften Wanderfreude dessen an, der Sils-Maria berühmt gemacht hat. Ihm zu folgen vermag uns dem Geist des Ortes und der Gegend vielleicht näher zu bringen als die bunten Slalomstangen.
Welcher Ferienort kann schon mit einem Philosophen seine Touristenwerbung betreiben? Im helvetischen Hochtal des Oberengadin liegt er, inmitten einer grandiosen Berg- und Seenlandschaft. Und Nietzsche verfiel ihm – Sils- Maria.
Die gereimten Zeilen (s.o.) tragen als Titel den Dorfnamen (zu finden in seiner Schrift „Die Fröhliche Wissenschaft“, dortselbst geschrieben und verfaßt), und die Prospekte werben mit dem Nietzsche-Satz: „Hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind.“
Insgesamt siebenmal ist der umherschweifende Philosoph mit dem Riesenschnauzer zur Sommerszeit im Privatquartier beim Dorfkrämer Durisch für einen Franken pro Tag untergekommen. Das war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als von Tourismus noch keine Rede war, zumindest nicht im Oberengadin.
Heutzutage auf den Spuren von „Fritz“, wie ihn seine Schwester Elisabeth ansprach, wandern: Nietzsche liebte es, beim Gehen zu denken und umgekehrt. Zwar kurvte seinerzeit noch keine rote „Rhätische Bahn“ aus dem schweizerischen Tiefland ins fast 2.000 Meter hoch gelegene obere Engadin. Vom Zürichsee kommend, war der Moralrebell auf die Postkutsche angewiesen, um ins geliebte Sils zu gelangen.
„Hier ist gut leben“, schwärmte er, „in dieser starken, kalten Luft, hier, wo die Natur auf wunderliche Weise zugleich wildfeierlich und geheimnisvoll ist.“ Die Höhe hatte es ihm angetan, angesichts der „6.000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen“ geriet er ins Schwärmen, fühlte sich zuweilen magische „6.000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit“.
Und das obwohl Nietzsche nie kletterte oder gar Berge bestieg. Er spazierte, täglich mehrere Stunden, im Kampf gegen immerwährende Migräne und Magenweh. Die Dorfstraße säumen nun hohe Häuser, nur des Philosophen Bleibe, heute als „Nietzsche-Haus“ ein Wallfahrtsort von internationaler Attraktivität, wurde im Urzustand bewahrt.
Sils-Maria liegt zwischen zwei Seen am Eingang des Fextals. Drei Richtungen hatte unser Cicerone zur Auswahl. Wer will, mag ihm folgen. Berühmt und deswegen Hauptziel aller Liebhaber des einsamen Denkers ist die Halbinsel Chasté im Silser See. An ihrer Spitze, mitten im See, soll Nietzsche einen Lieblingsplatz zum Ruhen und Sinnen besessen haben. Jahre nach seinem Tod wurde der mit einer Tafel markiert, die eines seiner eher unsäglichen Werke in Reimform präsentiert. Nicht selten verweilen hier, auf einer der Holzbänke, ältere Herrschaften, die männlichen unter ihnen manchmal mit einer haarigen Kopie des Meisters überm Mund.
Nietzsche aber warf hier, auf dem Dach Europas, die Idee einer „idealen Hundehütte“ aufs Papier, in der er einst zu sterben gedachte. War er doch unter allen Umständen eines nicht – er war kein Tourist: Nietzsche hatte nach dem Abschied von der Professur in Basel kein festes Zuhause mehr. Seine Heimat bestand aus lauter Zufluchtsorten. Sils war der für den Sommer.
Kehren wir über die Landstraße vom See und seiner Halbinsel ins Dorf zurück, so passieren wir die Ruine des Grandhotels „Alpenrose“ – Nietzsches Kantine sozusagen, denn seine Leidenschaft galt nicht erlesenen Menüs. Ein Stück Fleisch und Obst sollten es täglich zum Mittagessen sein, für den Genügsamen. Ausschweifender gefiel er sich, wenn es zum Spazieren um den anderen See neben Sils ging, den von Silvaplana. Am Ufer des Sees begegnen wir ganz und gar unverhofft dem Typus des philosophiegeleiteten Wanderers beiderlei Geschlechts. Das gemeinsame Ziel der Route liegt kurz vorm Ende des Gewässers: ein Felsblock, von glucksenden Wellen umspült oder eisverkrustet, je nach Jahreszeit.
Nietzsche selbst war es, der hinterließ, er habe just hier die Idee zu seinem Kernstück der Zarathustra-Schrift, der sogenannten und berüchtigten „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ empfangen. Immerhin, des Winters, wenn auch dieser See zugefroren ist, hasten hier seit eh und je im Engadin-Skimarathon mindestens fünftausend Langläufer 42 Kilometer weit mit ignorantem Keuchen vorüber.
Das Grandhotel „Waldhaus“ überrage Sils-Maria zu Zeiten des „Höhlenbärs“ – so Nietzsche über Nietzsche – noch nicht. Heute findet sich kaum eine Postkarte ohne den imposanten Schloßbau mit seinen Türmen und Zinnen, Gastgeber seit etlichen Jahren des Nietzsche-Kolloquiums, an dem sich die höchste Stufe der Verehrung des Meisters auslebt.
Auch anno 95 labten sich an die hundert Fachleute und Freunde des Philosophen an seiner „Fröhlichen Wissenschaft“. Germanisten aus den vier Alpenländern nahmen sich seine Aphorismen vor. Sätze, Worte, Silben, ja sogar Satzzeichen wurden in philologischer Manier gedeutet. An ihrem Idol ließ die Gilde der Germanisten aber auch jedes gute Haar.
So karg Nietzsche seinerzeit in seiner Bude beim Dorfkrämer hauste, so luxuriös genossen nach ihm zahllose Intellektuelle aller Herren und Damen Länder die Suiten im „Waldhaus“, alphabetisch startend bei A wie Adorno. Der Philosoph aus Frankfurt war es, der in den sechziger Jahren dem Silser Genius loci folgte und auf Spurensuche ging. Mit seinem Freund und Kollegen Herbert Marcuse, erzählt Adorno, trieb er noch einen Zeitgenossen Nietzsches auf.
Der wußte auch zu berichten, daß der arme Nietzsche auf der Dorfstraße nicht selten als Kauz gehänselt und von den Kindern mit einer Posse bedacht wurde. Die hätten nämlich in den zusammengefalteten Regen- bzw. Sonnenschirm – Nietzsche suchte sich damit gegen sein Augenleiden zu schützen – „Steinchen praktiziert, die ihm, sobald er ihn öffnete, auf den Kopf fielen“. Adorno kam insgesamt zwölfmal zur Sommerfrische ins Oberengadin. Übertroffen wurde er in seiner Zuneigung für Sils nur von Hermann Hesse, der, wie der „Waldhaus“-Direktor mit stillem Stolz auf Befragen mit
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teilte, exakt 365 Tage seines Lebens dortselbst zubrachte.
Für den leidigen Autoverkehr gesperrt, fügt sich eine Wanderung ins Fextal auch heute noch ins Bild, wie es sich Nietzsche vor 110 Jahren bot. Kaum ein Haus ist zu den ehrwürdigen Bauernkaten aus alter Zeit hinzugekommen, auch die beiden Hotels standen schon damals. Nur die Geräuschkulisse mag sanft mutiert sein.
Nehmen wir noch einmal Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ aus dem Rucksack – der Text übrigens, der Kennern als Lieblingswerk des Autors gilt, weil er zur Zeit der Abfassung verliebt war in Lou Salomé: mithin die Einstiegsdroge für Interessierte – und schlagen von den insgesamt 383 Aphorismen den letzten auf.
Hier ruft der „Einsiedler und Zukunftsmusikant“ die vielzitierten Worte aus: „Nein, nicht solche Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!“
Murmeltierpfiffe aus dem Fextal sind es, die Nietzsche zu „solche Töne“ zählt. Adorno, der auf seinen Spuren wanderte, hörte sie zu seiner Zeit ebenso (wie wir) und setzte den scheuen Pfeifern ein kleines kulturkritisches Denkmal: Ihrer „zum Warnsignal erstarrten Angst“ gab er Nietzsches „Pathos der Angst“ zur Seite.
Zurück im Dorf, wartet das „Nietzsche-Haus“, von der gleichnamigen Stiftung zum Museum ausgestaltet, mit Preziosen und Kuriositäten aus dem Leben des Meisters und seiner Jünger auf. Vitrinenweise. Gleich unten links ein Raum, den wir das Schnauzer- Zimmer nennen wollen, da unsere Zählversuche der Abbildungen der Oberlippenverzierung erschöpft abgebrochen werden mußten. Vielleicht folgen wir noch einem zufällig anwesenden Museumsführer – im besten Fall dem Schöpfer der Ausstellung, Professor Bloch aus Mulhouse – ins Obergeschoß, wo sich hinter einem zur Kordel gedrehten Hanfseil durch die geöffnete Tür ein Blick ins eigentliche Heiligtum werfen läßt, Nietzsches Zimmer.
Wahrhaftig dürfen wir der Originaltischdecke – ohne Tintenflecke! – mit ihrer, so Bloch unverblümt, „frivolen“ Bordüre ansichtig werden. Ansonsten stehen da, streng geordnet, Tisch, Stuhl und Bett herum; von den von zeitgenössischen Besuchern des Eremiten von Sils beschriebenen Eierschalen auf dem Tisch keine Spur.
Wer Nietzsches Spuren vor Ort bis in ihre feinsten Verästelungen folgen will, lese: Paul Raabe, „Spaziergänge durch Nietzsches Sils- Maria“, Arche-Verlag, Zürich.
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