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Stunde der Wahrheit in Dayton

Die Bosnien-Verhandlungen in einem „kritischen Stadium“: In den Kernfragen gibt es noch keine Einigung, die Druckmittel sind erschöpft  ■ Von Andreas Zumach

Genf (taz) – Die Bosnien-Friedensverhandlungen auf der Wright-Patterson-Airbase in Dayton, Ohio, gehen in die dritte Woche – und für die US-Vermittler unter ihrem Chefunterhändler Richard Holbrooke wird es langsam eng. Aus verschiedenen Delegationen wird mit Abreise gedroht, und viel mehr Druck auf die einzelnen Verhandlungspartner können auch die USA nicht mehr ausüben. So erklärte ein Sprecher des US- Außenministeriums am Donnerstag, die Gespräche seien in einem „kritischen Stadium“. Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) sagte gestern, er sei über den Stand der Verhandlungen informiert worden und rechne bis zum Sonntag mit einer Einigung – bislang aber zeichnet sich bei den Kernfragen einer Friedenslösung keine Einigung ab.

Dabei hatte die diplomatische Initiative der USA seit ihrem Beginn vor drei Monaten stets Erfolge verzeichnet: Ende August die Vereinbarung zwischen Belgrader und Paler Serben über eine gemeinsame Verhandlungsdelegation unter Führung von Serbiens Präsident Milošević, der im Streitfall auch das letzte Wort haben soll. Im September folgten die Genfer und New Yorker Grundsatzvereinbarungen über Verfassungsfragen; am 11.Oktober trat ein zunächst auf 60 Tage befristeter Waffenstillstand in Kraft. Und in der letzten Woche schließlich wurden Vereinbarungen zur beschleunigten Umsetzung der muslimisch-kroatischen Föderationsvereinbarung vom März 1994 unterzeichnet sowie zur friedlichen Wiedereingliederung Ostslawoniens nach Kroatien.

Die häppchenweisen Fortschritte waren auch nötig – denn zur Überwachung eines Bosnien- Abkommens braucht es eine multinationale Truppe, und ohne die bisherigen Erfolge wären die Bedenken im US-Kongreß gegen die Entsendung von US-Soldaten zu einer solchen Mission wahrscheinlich noch stärker, als sie ohnehin bereits sind. Doch jetzt ist für Holbrooke und sein Vermittlerteam endgültig die Stunde der Wahrheit gekommen. Auf dem Verhandlungstisch liegen nur noch die Kernfragen eines Bosnien-Abkommens. Und hier gibt es nach wie vor keine Anzeichen für einen Durchbruch. Nach wie vor streiten Muslime und Kroaten einerseits und Karadžić-Serben andererseits darüber, ob die künftige Verfassung vorsehen soll, die gemeinsamen Institutionen des Staates Bosnien-Herzegowina – Parlament und die Präsidentschaft – direkt von allen bosnischen Staatsbürgern und -bürgerinnen wählen zu lassen oder von den Parlamenten der muslimisch-kroatischen Föderation und der Serbischen Republik. Und die Verteilung der Kompetenzen zwischen den zentralstaatlichen Institutionen und denen von Föderation und Republik ist ebenfalls umstritten.

Am schwersten ist jedoch weiterhin, sich über die Details der territorialen Aufteilung zu einigen, insbesondere über die Zukunft Sarajevos. Holbrookes Vorschlag: Sarajevo soll ungeteilt bleiben und vollständig entmilitarisiert werden. Und: Sarajewo soll lediglich Sitz der gemeinsamen Institutionen des Staates Bosnien-Herzegowina sein, nicht aber der Regierungen und Parlamente der muslimisch-kroatischen Föderation und der Serbischen Republik, soll also eine ähnliche Funktion erhalten wie Washington D. C. in den USA. Das aber lehnen die Karadžić-Serben ab. Sie bestehen weiterhin auf einer Teilung der Stadt sowie auf Pale, dem südöstlichen Vorort Sarajevos, als Hauptstadt ihrer künftigen Republik. Auch verlangen sie einen Landzugang zur Adria und die Rückgabe der im September gemeinsam von bosnischen und kroatischen Regierungstruppen zurückeroberten Gebiete in Nordwestbosnien. Vertreter der Karadžić-Serben in Dayton drohten am Mittwoch schon mit ihrer Abreise, sollten ihre Forderungen nicht erüllt werden.

Noch immer umstritten ist auch, ob die ostbosnische Muslimenklave Goražde Bestandteil der Föderation werden soll und wie Goražde dauerhaft an das zentralbosnische Föderationsgebiet angebunden werden kann. Während das Interesse der Kroaten an der Zukunft Sarajevos und Goraždes relativ gering ist, insistieren sie – gemeinsam mit den Muslimen – darauf, daß die Karadžić-Serben ihren Ost-West-Landkorridor in der nordbosnischen Posavina- Ebene, südlich der Grenze zu Kroatien, aufgeben. Die Serben verlangen hingegen, der Korridor, immerhin die Landverbindung zwischen der Region um Banja Luka und Serbien, müsse auf 20 Kilometer verbreitert werden. Anfang der Woche drohte die kroatische Delegation ihrerseits mit dem Abbruch der Verhandlungen, wenn in dieser Frage keine Einigung erzielt werde.

Die US-Vermittler haben kaum noch Möglichkeiten, auf die Verhandlungspartner Druck auszuüben. Kroatiens Präsident Tudjman sieht sich nach seinen militärischen und politischen Erfolgen der letzten Monate in einer starken Position. Und die Drohung mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag beeindruckt ihn kaum noch und ist gegenüber seinem serbischen Amtskollegen offenbar ausgereizt: Als am Donnerstag letzter Woche erstmals gegen drei Offiziere der früheren Jugoslawischen Volksarmee Anklage erhoben wurde, da sorgte das in Belgrad noch für Unruhe und beschleunigte – zusammen mit den militärischen Angriffsdrohungen aus Kroatien – die serbische Kompromißbereitschaft in der Ostslawonienfrage. Weiter aber, und das wissen auch die Serben, darf das Den Haager Tribunal jedenfalls nach Meinung der US-Regierung nicht gehen. Denn wenn Anklage gegen führende Militärs Serbiens erhoben würde, dann würde das unweigerlich Milošević als den politisch Hauptverantwortlichen für die serbischen Kriegsverbrechen in den Mittelpunkt rücken. Das aber wollen weder die USA noch die anderen vier Partner in der Bosnien-Kontaktgruppe, Rußland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien: Serbiens Präsident wird als wichtigster Partner für eine Friedensvereinbarung noch gebraucht.

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