Seveso, Tschernobyl, Bhopal - „news“ mit Spätfolgen

■ Führen Industrieunfälle zu gesundheitlichen Risiken? BIPS lud zu einem epidemiologischen Fachkongreß nach Bremen

Störfälle in der Industrie verschwinden häufig ebenso schnell aus dem Bewußtsein der Menschen wie sie auftauchen. Die oftmals verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt und damit die Gesundheit der unmittlebar betroffenen Bevölkerung findet Jahre, ja manchmal schon Wochen später keine Erwähnung mehr in den Medien. Selbst die Forschung ignorierte bislang weitgehend die Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung ohne Grenzen.

Das muß sich ändern, forderte ein international hochkarätig besetztes Symposium für Umweltepidemiologie, das von der Europäischen Kommission und dem Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) am vergangenen Wochenende in Bremen veranstaltet wurde. Neben weltweit anerkannten WissenschaflerInnen aus Belgien, Dänemark, Großbritannien, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, der Schweiz, Polen, Rußland und Ungarn nahmen auch einige wenige Industrievertreter teil.

Unter den WissenschaftlerInnen war unumstritten, daß die Aufstellung von Krankheitsregistern ein äußerst wirkungsvolles Instrument sind, um die gesundheitlichen Schäden nach Umweltkatastrophen zu erfassen. So konnten etwa die Langzeitfolgen der Dioxinkatastrophe von Seveso (1976) durch ein Register nachgewiesen werden, das 99 Prozent der Bevölkerung, aufgeteilt in drei Belastungszonen, erfaßt. Professor Bertazzi von der Mailänder Universität berichtete bei dem Kongreß, daß schon 15 Jahre nach dem Unfall verschiedene Krebsarten (Blut- und Lymphdrüsenkrebs) gehäuft auftraten. Die Sterblichkeit aufgrund von Herz- und Kreislauferkrankungen stieg ebenfalls an, was, so Bertazzi, möglicherweise auf die mit der Katastrohe verbundenen nervliche Anspannung zurückzuführen ist.

Ob auch die Chemie-Unfälle in Basel und Frankfurt ähnliche Folgen haben, wird derzeit untersucht. Das BIPS hat nach dem Hoechst-Unfall in Frankfurt (1993) 15.000 AnwohnerInnen in einem Expositionsregister erfaßt, um damit die Grundlagen für weitere Analysen zu gewährleisten. Die Langzeitfolgen der Chemie-Explosion im indischen Bhopal (1984) bleiben dagegen ungeklärt. Obgleich dabei mehere Quadratkilometer dicht besiedeltes Gebiet verseucht wurden, obgleich 2.800 Menschen starben und 200.000 verletzt wurden. Wie der britische Wissenschaftler Dr. Acquila berichtete, hat die indische Regierung die Untersuchungen für abgeschlossen erklärt.

Gegensätzliche Ergebnisse gibt es bei den Untersuchungen hinsichtlich des Reaktor-Unfalls in Tschernobyl. 1991 hatte eine Untersuchung der Internationalen Atomenergie Organisation noch „keinerlei strahlenbedingte Gesundheitsschäden“ festgestellt. Der Vorsitzende der bundesdeutschen Strahlenschutzkommission, Prof. Keller, erklärte beobachtete Schäden mit einer um sich greifenden Angst vor Strahlung. Dabei stand, wie drei Wissenschaftler beim Kongreß berichteten, zu dieser Zeit bereits fest, daß die Häufigkeit ds Schilddrüsenkrebses bei Kindern um das drei- bis fünffache gegenüber den Werten vor der Katastrophe gestiegen war. Inzwischen hat sich die Zahl der Fälle mehr als verzehnfacht. Blutzellenverändrungen und Chromsomenschäden wurden bei Kindern im sibirischen Tomsk festgestellt, nachdem es im dortigen AKW zu einer Explosion gekommen war.

Zwei Studien des BIPS belegen, daß auch Pestizide in der Landwirtschaft zu solchen Krankheitsbildern führen. Sie bringen außerdem, ebenso wie Schwermetalle, den Hormonhaushalt durcheinander, belasten die Schilddrüse, führen zu psychischen Erkrankungen und fördern ganz offensichtlich Depressionen und die Suizidalität. Wissenschaftlich belegt ist mittlerweile auch, was früher als esoterischer Nonsens bezeichnet wurde: Elektromagnetische Felder, wie sie etwa durch Hochspannungsleitungen verursacht werden, verursachen Schlafstörungen, Allergien, in der Nähe von Überlandleitungen wurde sogar eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Leukämie und Hirntumoren bei Kindern nachgewiesen.

Einen weiteren Schwerpunkt des Symposiums bildeten Untersuchungen zu den Ursachen angeborener Fehlbildungen, die vom Leiter des europäischen Fehlbildungsregisters „Eurocat“ als deutlicher Indikator von Umweltbelastungen bezeichnet wurden. Währedn die Fehlbildungsrate nach einem Industrieunfall bereits nach neun Monaten studiert werden kann, vergehen oft zehn und mehr Jahre, bevor es zu einem Anstieg der Krebsrate bei den betroffenen Menschen kommt. Nur durch systematische Register könne schnell nd wirkunsvoll auf Berichte über lokale Häufungen von Erkrankungen reagiert werden.

„Zukünftige Umweltforschung“, meint Professor Dr. Rainer Frentzel-Beyme, Leiter der Abteilung Epidemiologie beim BIPS und Mitorganisator des Kongresses, „muß den europaweiten Zusammenhang mit einbeziehen.“ Dafür aber gelte es, unter anderem einheitliche Standards in Europa zu schaffen. „Deutschland hat nicht einmal ein Krebsregister“, schimpft er. Er hofft, daß die EU-Kommission Die vom Kongreß erhobene Forderung unterstützt, die Instrumentarien der Umweltepidemiologie zu verbessern und finanzielle wie politische Hilfeleistung zu geben. dah